Die Totensammler
das wie eine weitere Gefängniszelle aussieht, allerdings weniger dunkel. Durch eine offene Tür, von der er nur den unteren Teil über dem oberen Treppenabsatz erkennen kann, fällt Licht in den Nebenraum. Das Fenster in der Tür zu seiner Zelle ist sauber, und auf der Innenseite sind ein paar Kratzer; würde man es zertrümmern, wäre das Loch nicht groß genug, um hindurchzuklettern. Die Scheibe beschlägt von seinem Atem, und er wischt mit der Hand darüber, fährt mit dem Daumen über einige der Kratzer. Er will nicht über die Menschen nachdenken, die hier eingesperrt waren und sie hineingeritzt haben, jedenfalls noch nicht. Auf der anderen Seite der Tür ist ein Regal mit Büchern, er kann jedoch keinen der Titel erkennen. Daneben steht eine Couch mit Löchern, die so groß sind, dass er sie von hier aus sehen kann und aus denen die Sprungfedern hervorragen. Er lässt seinen Blick zum Bücherregal zurückwandern. Und starrt es unverwandt an, seine Umrisse werden immer deutlicher … wenn es nur etwas heller wäre. Er meint, auf dem obersten Brett den Daumen zu erkennen, den er auf der Auktion ersteigert hat, und plötzlich ergibt alles einen Sinn – die Auktion war eine Falle. Wer auch immer ihm den Daumen verkauft hat, hatte nie die Ab sicht, sich davon zu trennen – ja, der Verkäufer hatte von Anfang an vor, seiner Sammlung weitere Daumen hinzuzufügen. Neben dem Bücherschrank steht seine Aktentasche; ihr Leder ist abgewetzt und einer der Verschlüsse verdreht.
Die Übelkeit trifft ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Er dreht sich um, und alles ist dunkel. Bis er sich vom Fenster ent fernt. Es gibt hier weder ein Waschbecken noch eine Toilette, nur zwei Eimer sowie einen Trinkbecher und eine Zahnbürste, was darauf hindeutet, dass der Verkäufer nicht vorhat, ihn zu töten, zumindest nicht sofort. Er packt den leeren Eimer, lässt sich auf die Bettkante sacken und übergibt sich, dann wischt er sich mit dem Saum seines Hemds den Mund ab. Sein Schädel hämmert, und die Tatsache, dass er nur mit zusammengekniffenen Augen etwas erkennen kann, macht die Sache nicht einfacher. Er reibt sich mit der Hand über die Brust und spürt die beiden kleinen Löcher an der Stelle, wo er vom Elektroschocker getroffen wurde; die Haken hat sein Angreifer wieder herausgezogen.
Er schließt die Augen und versetzt sich in jenen Moment zurück, als er den Mann das erste Mal gesehen hat, und verweilt bei diesem Bild. Nein, er ist ihm vorher bestimmt noch nie begegnet. Wie vielen Leuten hat dieser Mann schon diesen Daumen geschickt und sie dann entführt? Wirklich eine ungewöhnliche Vorgehensweise. Ein ungewöhnlicher Modus Operandi. Er wird ihn in seinen Unterricht aufnehmen, falls er hier je wieder rauskommt.
Er bewegt sich durch die Zelle, tastet sich mit den Händen langsam die Wände entlang, im hinteren Teil ist es fast völlig dunkel. Der Raum ist vom stechenden Geruch seiner Kotze erfüllt, sodass ihm erneut schlecht wird. Aus dem Boden und den Wänden ragen Schrauben, was er erst bemerkt, als er über eine davon stolpert und gegen eine weitere prallt. Früher muss sich hier mal ein sehr großer Gegenstand befunden haben. Mehrere gekappte Rohre führen in die Decke, und daneben ist eine dicke Stahlplatte festgeschraubt; wahrscheinlich verdeckt sie ein Loch. Wenn es etwa so groß ist wie die Platte, dann könnte man sich hindurchzwängen. Er steigt auf das Bett, kann die Platte aber nicht erreichen. Also kippt er das Bett auf die Seite und klettert hinauf. Als er in Reichweite ist, kann er erkennen, dass die Schrauben in eine glatte Oberfläche eingelassen sind. Selbst wenn er stark genug wäre, um sie zu lösen, gibt es keine Möglichkeit, sie zu greifen. Er versucht, seine Finger unter den Rand der Platte zu zwängen, doch vergeblich. Also steigt er vom Bett und stellt es wieder gerade hin. An einer anderen Wand wurde auf eine der Schrauben eine Öse geschweißt, sie befindet sich einen halben Meter unterhalb der Decke. Mehrere Löcher in den Wänden wurden zugemörtelt. Was auch immer aus diesem Raum entfernt wurde, es geschah, um eine Zelle daraus zu machen, nichts anderes ist das hier. Himmel, es ist wie aus dem Lehrbuch. Es könnte aus seinem Unterricht stammen.
Geht es etwa darum? Ist er deshalb hier?
Er überprüft seine Taschen. Darin befindet sich neben ein paar Münzen ein Stück Alufolie, das nicht ihm gehört. Er wickelt es auseinander. Es enthält zwei Schmerztabletten. Er rollt die Folie wieder
Weitere Kostenlose Bücher