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Die Totensammler

Die Totensammler

Titel: Die Totensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PAUL CLEAVE
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gesund und wohlbehalten wiederzufinden. Dazu bin ich fest entschlossen. Gestern war es schon heiß, doch heute ist es noch heißer. Am Himmel ist kein einziges Wölkchen zu sehen, wahrscheinlich gehen sie sofort in Flammen auf. Mutter Natur hält den Atem an, es weht kein Lüftchen. Im Süden über den Port Hills hängt eine Rauchwolke, das lodernde Gestrüpp färbt den Himmel dort draußen grau. Ich habe den Mietwagen gestern Abend in der Auffahrt stehen lassen, und dafür muss ich jetzt büßen: Das Lenkrad ist so heiß, dass man es nicht anfassen kann, und meine Sonnenbrille, die ich auf dem Armaturenbrett habe liegen lassen, verbrennt mir den Nasenrücken. Ich lasse die Türen offen und warte, bis sich das Innere etwas abgekühlt hat, dann biege ich auf die Straße. Es ist kurz vor zehn, und der Verkehr ist lange nicht mehr so dicht wie vor einer Stunde. Die Leute wirken müde. So, als würden sie sich heute gerne freinehmen, von was auch immer, und sich zu Hause ins Bett legen. Daran hat sich auch nichts geändert, als ich die Canterbury University erreiche. Ein Viertel des Parkplatzes steht voller Fahrzeuge, und die Birken, die ihn säumen, kann man eigentlich nicht mehr als Bäume bezeichnen, sie sind nur noch Brennholz. Die Leute, die aus ihren Autos steigen, sind alle ganz benommen.
    Die Canterbury University besteht aus alten und modernen Gebäuden, die nicht zusammenpassen – viele von ihnen sehen aus, wie man sich eine russische Uni auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs vorstellen würde, und der Rest, wie man sich eine Uni vorstellen würde, die auf dem Mond errichtet wurde. Es gibt ältere Gebäude aus der Zeit von Jack the Ripper, im gotischen Stil, aus grauen Steinen, die mit Ruß und Vogelscheiße überzogen sind und mit Dreck, der vom Nordwestwind hierhergetragen und auf ihnen abgeladen wurde. Dazwischen stehen mehrere moderne Gebäude mit großen Stahlträgern und lang gezogenen Glasfassaden, die mit den Fingerabdrücken und Streifen des Fensterputzers übersät sind. Keines der Gebäude hat so was wie geschwungene Linien, denn alles außer einem rechten Winkel hätte Mehrkosten bedeutet, die die Uni nicht aufbringen wollte. Die meisten Studenten tragen T-Shirts und kurze Hosen, aber es gibt auch immer noch die Exemplare mit schwarzen Trenchcoats aus Secondhandläden, schwarzen oder weißen Hemden und schwarzen Jeans, Buttons an der Jacke und Eyeliner im Gesicht, Männer wie Frauen, die den heißen Temperaturen trotzen, um ihrer Existenzangst Ausdruck zu verleihen. Mindestens die Hälfte der Studenten läuft mit ge senktem Kopf herum, die Augen auf das Handy gerichtet, während die Daumen über die Tastatur huschen und Kurznachrichten verschicken; nur hin und wieder heben sie den Blick, um nicht gegen eine Wand oder einen anderen Handybe nutzer zu laufen. Noch mehr von ihnen kommen weiße Kabel aus den Ohren, die irgendwo in eine Tasche führen. Ich frage nach dem Weg, was für sie so ist, als würden sie einem älteren Menschen helfen.
    Schließlich erreiche ich den Hörsaal, wo Emma Greens nächste Vorlesung stattfindet. Davor steht eine Skulptur aus Holzbalken, die mit grellen Farben bemalt ist und mehr nach schlechter Schreinerarbeit als nach guter Kunst aussieht. Ich bin mir nicht sicher, was sie darstellen soll; vielleicht ist einfach Superman hier vorbeigekommen und hat alle verfügbaren Haltestellenbänke zusammengekloppt. Draußen auf dem Rasen, im Schatten, lungert eine Gruppe Studenten he rum. Von ihnen erfahre ich, dass ihr Dozent noch nicht eingetroffen ist. Ich erkundige mich nach Emma. Die meisten ken nen sie aus der Vorlesung, wissen aber nichts Näheres über sie. Einige wurden von der Polizei befragt, und diejenigen, die ein bisschen was über sie sagen können, sind bereit, dieses bisschen zu wiederholen. In der Stunde, die ich mit ihnen warte, bringe ich einiges in Erfahrung; ihr Psychologieprofessor ist aber immer noch nicht aufgetaucht. Wie sich herausstellt, unterrichtet er auch Kriminalwissenschaften, allerdings nur für die Studenten, die ein dreijähriges Psychologiestudium belegt haben. Da ich es mit Psychologiestudenten zu tun habe, gibt jeder eine Einschätzung zu Emmas Verschwinden ab, wahrscheinlich hoffen einige von ihnen, dass sie für eine richtige Beurteilung der Situation eine Eins kriegen. Das ist wohl normal. Zwei Wochen nach Beginn des Psychologiestudiums fängt wohl jeder an, sich selbst zu analysieren und dann die anderen. So hilfreich sie sind, sie machen

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