Die Totensammler
scheuern!
»Wir werden hier unten sterben, wenn du mir nicht hilfst«, sagt er, aber sie hört nicht zu. Getrieben von dem verzweifelten Verlangen, etwas zu tun, getrieben von seinem Instinkt, dreht er sich um und schaut sich in der Zelle nach etwas Nützlichem um, aber natürlich ist da nichts, nur eine schäbige alte Matratze, ein Sprungfederbett und ein Eimer, der zu einem Viertel mit seiner eigenen Pisse und Kotze gefüllt ist und heute noch schlimmer stinkt als gestern. Er späht erneut durchs Fenster. Sie hat sich keinen Zentimeter bewegt.
Ganz ruhig. Immer nur ganz kleine Schritte.
Er holt tief Luft. »Mein Name ist Cooper«, sagt er und ballt seine Fäuste, allerdings so weit unten, dass sie sie nicht sehen kann. Er versucht, sie anzulächeln, bringt aber nur ein verkrampftes Grinsen zustande. Er muss ganz bei null anfangen, Grundkurs Psychologie. »Deine Familie macht sich bestimmt Sorgen um dich«, sagt er. »Und meine Familie macht sich Sorgen um mich . Hilf mir dabei, dich hier rauszubringen, damit du sie wiedersiehst. Kannst du die Tür öffnen? Bitte, wirf einen Blick auf die Tür.«
Sie schaut zu ihm hoch. Offensichtlich begreift sie, dass sie, da sie beide hier gefangen sind, auf derselben Seite stehen. Sie presst die Kiefer zusammen, und ihre Augen werden klar, und zum ersten Mal, seit sie aufgewacht ist, scheint sie voll da zu sein.
Noch zwölf Minuten.
»Wir müssen uns beeilen«, sagt er, »bevor der Mann, der uns entführt hat, zurückkehrt. Damit ich dir helfen kann, musst du mir zuerst helfen. Ich verspreche dir, dass wir es hier rausschaffen«, sagt er. Sie lässt ihren Blick durchs Zimmer wandern, als würde sie es gerade zum ersten Mal sehen. Sie dreht sich einmal im Kreis und hält inne, als sie ihm direkt in die Augen schaut.
»Die Tür«, sagt er. »Kannst du sie öffnen?«
Sie nickt, rührt sich jedoch nicht von der Stelle.
»Wir müssen uns beeilen«, sagt er, »und wir müssen leise sein.«
Sie tritt einen Schritt auf ihn zu, und dann noch einen, und jetzt steht sie direkt vor der Scheibe. Er wartet nur darauf, dass sie zurückweicht und sich erneut zu einer Kugel zusammenrollt. Aber das tut sie nicht. Sie blickt ihn durch das Fenster an und versucht, an ihm vorbeizuschauen, also macht er einen Schritt zur Seite, damit sie besser sehen kann. Aber der Schein der Lampe reicht kaum bis hierher. Aus der Nähe kann man erkennen, dass ihr Gesicht eingesunken ist, sie wirkt müde und ausgehungert, und an den Rändern ihres Mundes haben sich Bläschen gebildet. Zumindest glaubt er, dass es Bläschen sind.
»Ich kann etwas suchen, um den Kleber zu entfernen«, sagt er mit leiser, ruhiger Stimme, ohne eine Spur von Panik, ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr er will, dass sie sich ver dammt noch mal beeilt. »Es wird nicht schlimm, versprochen.«
Sie nickt erneut, und dann konzentriert sie sich auf die Tür. Das verletzte Handgelenk unter die Achselhöhle geklemmt, hantiert sie mit der freien Hand an etwas herum. Es ertönt das Quietschen von etwas Metallischem, das hoch- und runtergeklappt wird. Ein Bolzenschloss, vermutet er. Es hängt fest, und sie muss ein paarmal drehen, bis es mit einem Klacken aufglei tet. Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit. Er drückt dagegen, und das Ganze kommt ihm zu einfach vor, doch dann wird ihm klar: Es muss so einfach sein, wenn die Person, die einen gefangen hält, den Verstand eines Kindes hat.
Noch zehn Minuten.
Die Tür schwingt auf. Und er tritt hinaus in den Keller. Die Luft auf dieser Seite ist genauso kühl wie im Innern. Sie weicht zurück, als er sie fest in den Arm nimmt. »Gott sei Dank«, flüstert er, und er verspürt das dringende Bedürfnis, sich an ihrem Hals auszuweinen. Dann lässt er sie los. »Ich werde dir nichts tun«, sagt er und legt ihr die Hände auf die Schultern, doch sie scheint ihm nicht zu glauben.
»Wir müssen was finden, das wir als Waffe benutzen können«, sagt er und hastet zum Bücherregal hinüber. Von seinem Zellenfenster aus konnte er es nicht richtig erkennen, aber die Stücke in diesem Regal erzählen alle eine Geschichte, und es gibt darunter mehrere Messer aus seinem Haus. Er nimmt das größte, es hat eine stumpfe Klinge, und vor vierzig Jahren hat ein Mann damit seine Eltern erstochen; Cooper hat es bei einer Auktion für knapp zweihundert Dollar erstanden. Jetzt ist das Messer von unschätzbarem Wert. Er fühlt sich damit so stark, wie sein früherer Besitzer sich gefühlt haben muss. Auf dem
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