Die Tränen der Henkerin
Anschlag auf das Leben des Ratsherrn Konrad Sempach und seine Familie verübt zu haben. Als Mann verkleidet drang sie in sein Haus ein, überwältigte ihn und wurde mit einem Messer in der Hand an der Wiege von Sempachs Enkelkind erwischt.«
Wendel ließ die Arme hängen, Fassungslosigkeit lag in seinem Blick. Antonius steckte sein Schwert ein und kam näher. Von Säckingen sah ihm an, dass er in seiner Wachsamkeit nicht nachließ. Alles andere hätte ihn auch gewundert. Er durfte keine unbedachte Bewegung machen.
»Sie wollte in Esslingen nach ihrer entführten Tochter suchen«, murmelte Wendel. »Was wollte sie bei Sempach? Hat er Gertrud entführt?«
Von Säckingen konnte sein Glück nicht fassen. Melisande suchte ihre Tochter in Esslingen. Also hatte sie keine Ahnung, aus welcher Richtung der Sturm auf sie zuraste. Warum sie wohl Konrad Sempach im Verdacht hatte? Nun ja, diese Frage war im Augenblick unbedeutend. Er zuckte mit den Schultern. »Sempach ist ein angesehenes Mitglied des Stadtrats. Mehr weiß ich nicht.«
Plötzlich kam Leben in Wendel. Er drehte sich um und rannte auf die Stelle zu, wo die Pferde angebunden waren.
Verdammt! Er musste verhindern, dass dieser Bursche übereilt handelte und dadurch alles noch schwerer oder gar unmöglich machte! Von Säckingen stürmte hinter ihm her, Antonius war ihm dicht auf den Fersen.
»Wendel Füger, wartet!«, rief von Säckingen. »Übereilt jetzt nichts. Gott ist auf unserer Seite, denn er hat uns zusammengeführt. Gemeinsam werden wir Melisande befreien, doch wir müssen einen Plan schmieden. Habt Geduld, Füger, Ihr seid nicht allein!«
Antonius warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, doch er neigte zustimmend den Kopf. »Der Ritter hat Recht, Herr. Heute Nacht könnt Ihr nichts ausrichten. Haltet ein, um Gottes willen!«
Die Worte seines Leibwächters schienen Wendel zu erreichen. Er ließ die Hände sinken, mit denen er gerade die Zügel vom Baum hatte lösen wollen. Er nickte wortlos, drehte sich um, seine Augen waren schwarz wie die Nacht. »Von Säckingen!«, grollte er. »Ihr sollt wissen, dass ich Euch nicht traue, und wenn ich erkennen sollte, dass Ihr ein übles Spiel im Sinn habt, dann werdet Ihr meinen Stahl zu schmecken bekommen.«
Von Säckingen deutete ein Nicken an.
»Aber wir können jeden Mann gebrauchen, denn ich kenne den Kerker von Esslingen und weiß, dass er eine kleine Festung ist. Er ist im Schelkopfstor untergebracht, das noch kein Feind überwinden konnte.«
Von Säckingen reckte kämpferisch das Kinn. »Gemeinsam werden wir Eure Gattin befreien und Eure kleine Tochter finden, das ist sicher.« Er drehte die Handflächen nach oben. »Aber nur wenn wir mit Besonnenheit vorgehen. Wenn die Wachen uns ergreifen, dann gnade uns Gott, dann werden wir gemeinsam mit Eurer Gattin am Galgen enden.«
Wendel sah ihn lange schweigend an. »Eberhard von Säckingen«, sagte er dann vollkommen ruhig. »Schwört bei Eurer Ehre und bei Gott, dass Ihr uns treu zur Seite stehen werdet, dass Ihr Euer Leben einsetzen werdet, um meine Gemahlin Melisande Füger aus dem Kerker von Esslingen zu befreien!«
Von Säckingen hob seinen Schwurarm, sprach die Worte nach und fügte bekräftigend hinzu: »Bei meiner Seele und bei meiner Ehre als Ritter.«
Wendel atmete hörbar aus, das Misstrauen verschwand aus seinen Augen. Er ließ sich auf einem Gesteinsbrocken nieder. »Gut, dann lasst uns beraten, wie wir Melisande den Klauen der Esslinger entreißen sollen.« Er blickte einen Moment in den Himmel, dann fügte er hinzu: »So wahr mir Gott helfe: Wenn es sein muss, werde ich die ganze Stadt in Brand stecken, um sie vor dem Galgen zu retten!«
***
Melisande hatte die Knie zur Brust hochgezogen, die Arme darum geschlungen und weinte ohne Tränen. Ihr ganzer Körper juckte, war von Flohbissen und Ausschlag gezeichnet. Der Arm brannte. Die Feuchtigkeit war ihr in alle Glieder gekrochen, saß beinahe tiefer als die Angst. Nach dem ersten Schreck darüber, dass sie enttarnt worden war, war eine noch viel schlimmere Befürchtung über sie hereingebrochen: Was hatten sie mit ihr getan, während sie nicht bei Bewusstsein gewesen war? Immer wieder schreckte sie hoch, meinte sich zu erinnern, wie schmierige Finger über ihre nackte Haut fuhren.
Sie hob den Kopf. Irgendwoher hatte sie ein Geräusch gehört. Sie horchte. Nichts. Behutsam strich sie sich über den Bauch. Was mochte wohl aus ihrem ungeborenen Sohn werden? Würde man ihre Hinrichtung vertagen,
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