Die Tränen der Massai
ohne ein weiteres Wort durch den Vorhang ins Schlafzimmer. Malaika blieb direkt hinter dem Eingang stehen, die Tasche unter dem Arm, und fühlte sich zu groß für das kleine Haus. Es gab offensichtlich keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Sie sah sich noch einmal im Zimmer um, dann bemerkte sie, dass Tante sie weiterhin anstarrte, während sie Maismehl und Gemüse mischte. Malaika schämte sich ihrer kleinen Brüste und hob abermals die Tasche vor die Brust.
»Dort gibt es ein Bett«, sagte Tante und nickte zu dem in der Küchenecke hin. »Das musst du mit Mayasa teilen. Sie ist sechs, meine Älteste.«
»Asante sana.
Danke, Tante. Ich werde dir keine Arbeit machen.«
Die Frau schwieg, den Blick auf ihre Hände gerichtet, die sie langsam an einem Küchentuch abwischte. Onkel kam aus dem Schlafzimmer und verabschiedete sich mit einem Brummen.
Tante seufzte und ging langsam zu einem Stuhl unter dem Fenster. »Wie heißt du, Mädchen?«, fragte sie, als sie sich auf dem Stuhl niederließ.
»Malaika.«
»Malaika?« Sie runzelte die Stirn. »Ein seltsamer Name für eine Massai.«
»Ich bin keine Massai.«
In Tantes Miene lag nichts weiter als milde Überraschung über diese brüske Antwort. Sie hob das Kleinkind hoch, das zu ihr gekrochen war und nun an ihrem Kleid zerrte.
»Nein«, sagte Malaika höflicher. »Ich bin keine Massai.«
Tante sagte nichts dazu, sondern öffnete nur die Bluse für das Kind. Es saugte und gurgelte an ihren Brüsten.
Malaika, die sich wegen ihrer schlechten Manieren schämte, musste ein Friedensangebot machen. »Ich werde keine Mühe machen, Tante. Ich will Arbeit suchen. Im Krankenhaus.«
»Hm. Ich nehme an, der da« – sie nickte zur Straße hin – »hat deinem Vater gesagt, er könnte dir dort Arbeit besorgen, wo er arbeitet.«
»Ich … ich glaube schon …«
»Nun, es wäre besser, wenn du selber hingehst. Dein Onkel ist entlassen worden. Weil er getrunken hat.« Sie hob das Baby in eine bequemere Position auf ihrem Schoß. Milch lief von den geschürzten Lippen des Kleinen. »Jetzt glaubt er, dass er mit
Chang’aa
Geld machen kann. Er trinkt mehr, als er verkauft. Er und die anderen Hurenböcke.«
Malaika ließ die Schultern sinken. Ihr gesamter Plan hing davon ab, Arbeit im Krankenhaus zu finden, ganz gleich, welche. Es hatte als eine Geschichte angefangen, um Ziada zu beruhigen, aber dann war diese Geschichte immer weiter gewachsen. Als Malaika in den Bus gestiegen war, war sie beinahe selbst überzeugt gewesen, dass sie bald Krankenschwester sein und auf irgendeine Weise – die Einzelheiten würde sie schon herausfinden – Ärztin werden würde. Sie würde Leben retten. Babys auf die Welt holen. Taten von großem humanitärem Wert vollbringen.
Tante musste ihre Miene gedeutet haben. »Aber geh ruhig hin, Kind. Versuch es. Du könntest …« Sie zuckte die Achseln, unfähig, irgendwelche ermutigenden Worte zu finden.
Einen Monat nach ihrer Ankunft und zwei Monate bevor Onkel sie allein in ihrem Bett in der Ecke entdeckte, lernte Malaika Jai Hussein kennen. Er wartete auf der Treppe des Krankenhauses, ebenso wie sie, aber aus seiner guten Kleidung schloss sie, dass er nicht vorhatte, um Arbeit zu betteln. Er war schon seit einiger Zeit vor der Steintreppe auf und ab gegangen. Er trug eine baumwollene Trainingshose, ein weißes T-Shirt und eine Schirmmütze, auf der
Reebok
stand, und er sah aus, als wäre er auf dem Weg zum Fußballfeld oder zum Tennisplatz.
Malaika warf ihm verstohlene Blicke zu, wenn sie glaubte, dass er es nicht bemerken würde. Er war in seinen dick besohlten Laufschuhen beinahe eins fünfundachtzig groß, aber sein Bart wirkte, als hätte er schon einige Zeit versucht, ihn wachsen zu lassen, ohne die Lücke zwischen seinem Kinn und dem dünnen, weichen Haarfinger an seiner Schläfe überbrücken zu können. Ohne den Bart hätte er ein Engel sein können. Immer vorausgesetzt, es gab Engel in Indien. Sein braunes, herzförmiges Gesicht hatte vollendete Proportionen, die Nase war gerade und schmal, die Lippen weich und voll. Seine Brauen bogen sich über wunderschönen dunkelbraunen Augen.
Malaika schreckte auf, als er sie ansprach und erzählte, dass er hier auf seinen Vater wartete. Er fragte sie, ob sie etwas von seinem
Nyama Choma
wollte. Der Geruch nach frisch gegrilltem Fleisch war schon, seit sie vor einer Stunde angekommen war, verlockend aus dem Grillwagen des Verkäufers aufgestiegen, aber Malaika lehnte dennoch
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