Die Tränen der Massai
Mama. Es ist nur ihre Schuld, dass du weggehst. Ich hasse sie.«
»Still«, sagte Malaika, schloss die Augen und drückte Ziada fest an sich. »Still.«
Sie war die Letzte, die aus dem Bus stieg. Im Busbahnhof dröhnte der Verkehr. Busse standen Schlange bis um die Ecke und blockierten die ganze Straße. Autos, Motorräder, Karren,
Matatus
und Laster drängten sich alle in einem Bereich, der viel zu klein für auch nur die Hälfte von ihnen war. Sie hupten, versuchten, um den Stau herumzufahren. Und überall, wo in diesem Durcheinander noch Platz war, drängten sich Menschen. Kikuyu, Luo, schwarze Turkana und Pokote, hoch gewachsene Massai und Samburu und stolze Swahilimänner in fließenden Gewändern mit verschleierten Frauen, die ihnen folgten und Körbe und Kinder trugen.
Und wo war Onkel? Warum hatte sie nicht besser aufgepasst, als Hamisi ihn beschrieb? Sie hätte in dieser Menge nicht einmal ihre Mutter finden können. Hamis hatte schon gesagt, dass am Busbahnhof in Nairobi viele Menschen sein würden. Aber so viele! Es war unvorstellbar.
Die Flut von Menschen und Verkehr rauschte um Malaika herum, während sie ihre Tasche an die Brust drückte. Die Gesichter, die sie betrachtete, bedeuteten ihr nichts.
Ein großer dünner Mann mit nicht viel Haar,
hatte Hamis gesagt. Das hätte beinahe jeder sein können.
Nicht viele Zähne.
Was hatte er sonst noch gesagt?
Warte am Busbahnhof; Onkel wird dich schon finden, wenn er erst den Bus gefunden hat.
Malaika tastete nach ihrem Malachitanhänger. Sie hielt den Atem an, dann fiel ihr ein, dass sie ihn Ziada gegeben hatte, um die Tränen ihrer kleinen Schwester zu trocknen. Bei der Erinnerung an den Abschied spürte sie einen Kloß in der Kehle.
Ihr Bus erwachte röhrend wieder zum Leben und stieß eine Wolke von Dieselqualm aus. Dieser Bus war ihre einzige Verbindung mit Mwanza, und nun rumpelte und wackelte er die River Road entlang davon. Die Menschenmenge füllte sofort die Stelle, die er verlassen hatte, aber das war nur ein kurzer Sieg. Drei
Matatus
drängten sich auf den von dem Bus verlassenen Platz, hupten und scheuchten Malaika und die anderen zum Fußweg.
Es waren nicht einmal vierundzwanzig Stunden ihres neuen Lebens vergangen, aber so hatte sie sich das nicht vorgestellt. Die Tasche hing schlaff in ihren Fingern.
»Ho, Malaika! Bist du Malaika?« Der Mann war groß, dünn und kahl. »Bist du es?«, fragte er grinsend. Nur vier verfärbte Zähne waren in seinem Mund zu sehen, aus dem unangenehmer Atem strömte. Malaika nickte. Da sie kein Wort herausbekam, versuchte sie zu lächeln.
»Du bist also Hamisis Kleine, wie?« Er trug ein schmutzigweißes T-Shirt unter einer hässlichen braunen Jacke. »Ho! Nicht ganz so klein! Sieh dich nur an. Du bist bereits groß. Und sogar ein bisschen
maziwa.«
Sie verbarg ihre Brust hinter der Tasche und senkte den Kopf, um sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen.
Er hob ihr Kinn. »Freust du dich nicht, Onkel zu sehen?«
Sie hatte sich gefreut, aber jetzt war sie nicht mehr so sicher.
»Ho! Eine Schüchterne! Und jetzt komm; Tante wartet schon. Hast du Geld für das
Matatu?«
Die Frage verblüffte sie. Sie nickte und erinnerte sich an die kenianische Banknote, die Hamis ihr an der Bushaltestelle in Mwanza in die Hand gedrückt hatte.
»Wo ist es?« Er nahm ihre Tasche, während sie an dem kleinen Täschchen an ihrem Perlengürtel nestelte.
»Fünfzig Shillingi!« Er nahm ihr die Banknote aus der Hand und ließ die Tasche fallen. Malaika hob sie auf und wischte den Staub der River Road von dem Stoff. »Komm«, sagte er und war schon ein paar Schritte weit entfernt, bevor Malaika begriff, dass er keine weitere Zeit verschwenden würde.
Malaika klemmte sich die Tasche unter den Arm und eilte ihm nach. Die fünfzig Shilling waren mehr Geld, als sie je besessen hatte, und nun konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass sie sie nie wieder sehen würde. Einen Tag und eine Nacht war sie mit diesen fünfzig Shilling in ihrem Gürtel unterwegs gewesen und hatte gegen ihren Hunger angekämpft, weil sie befürchtete, wenn sie den Schein herausholte, würde sie versucht sein, ihn auszugeben. Außerdem hatte sie Angst vor ihren Mitreisenden gehabt, die durchaus ehrlich aussahen, aber ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, im Bus vorsichtig zu sein. Und in der großen Stadt sollte sie sich besonders vor Männern hüten, da diese für gewöhnlich nur eines wollten. Malaika nahm nicht an, dass ihre Mutter damit
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