Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
konnte Antoinette nur zustimmend nicken.
Louise ließ ihre Freundin los und griff sich theatralisch an die Stirn. »Ihr könnt Euch vorstellen, dass sie angesichts meines Gefolges abfällig die Miene verzieht, selbst wenn es nur aus fünf oder sechs Personen besteht! Wenn sie mich nicht auch noch mit einer äußerst anzüglichen Bemerkung bedenkt«, fuhr Louise fort und nahm wieder Antoinettes Arm.
»Ich bitte Euch, Louise, Ihr findet doch stets eine angemessene Antwort auf ihre Beleidigungen. Vielleicht hält sich die Königin jetzt endlich damit zurück.«
Nachdem sie über die gesamte Länge der Festungsmauer durch den Wehrgang gelaufen waren und bereits eiskalte Hände und Füße hatten, standen sie nun endlich vor der Kapelle, die als Freivorbau über der Schlossmauer ganz im Flamboyantstil des ausgehenden Mittelalters errichtet war.
Flämische Künstler, die Ludwig XI. an seinen Hof geholt hatte, hatten den Türsturz gemeißelt, auf dem überaus kunstvoll die Legende vom heiligen Hubert dargestellt war, einem unbußfertigen Jäger, der eines Tages in seinen Wäldern einen Hirsch mit einem gewaltigen leuchtenden Kreuz im Geweih gesehen hatte.
Vor der Tür blieben die beiden Frauen plötzlich stehen.
»Habt Ihr das Geräusch eben auch gehört, Louise?«, fragte Antoinette und spitzte die Ohren.
Es klang wie ein ängstliches Piepsen, ein spitzer, schwacher Schrei, der immer wiederkehrte.
»Es scheint irgendwie vom Boden zu kommen.«
Als sie sich bückten, entdeckten sie ein winzig kleines schwarzweißes Federknäuel, das zwischen zwei Steinen hockte.
»Das ist ja eine Schwalbe!«, rief Louise erstaunt.
Das Vögelchen konnte nur noch einen Flügel bewegen und weder fliehen noch sich verstecken. Mit weit aufgerissenem Schnabel hörte es plötzlich auf zu piepsen und drückte sich noch tiefer in den Spalt.
Behutsam hob es Louise hoch und setzte es in ihre hohle Hand.
»Das ist wirklich seltsam«, sagte sie. »Es ist doch noch viel zu früh, um die Zeit kommen die Schwalben noch nicht zurück. Wo mag das arme Tierchen nur herkommen?«
»Bestimmt hat es hier irgendwo sein Nest.«
»Trotzdem ist das sehr ungewöhnlich«, meinte Louise und strich mit dem Finger vorsichtig über das zerrupfte Gefieder des Vogels. »Ein Jammer, dass Marguerite nicht da ist. Sie versteht es so gut, gebrochene Vogelflügel zu schienen.«
»Gebt die Schwalbe doch Catherine. Sie hat schon oft zugesehen, wie Eure Tochter das macht, und kann dem Vögelchen sicher auch helfen.«
Antoinette betrat die Kapelle als Erste, gefolgt von Louise, die immer noch die zitternde kleine Schwalbe in der Hand hielt. Als sie sich auf die Altarstufen knieten, fiel gerade ein heller Sonnenstrahl durch die bunten Glasfenster.
Louise und Antoinette vertieften sich jede für sich in ein kurzes Gebet und wollten beide schnell wieder gehen.
Sie verließen die Kapelle und traten auf den gepflasterten
Vorplatz, der im kalten Morgennebel stumpf und eintönig wirkte.
»Ich glaube, ich gehe Charles auf der Rampe entgegen, Antoinette. Kommt Ihr mit, oder wollt Ihr durch den Wehrgang zurückgehen?«
Antoinette musste lächeln, weil Louise offensichtlich keinen Augenblick der verbleibenden Zeit versäumen wollte, die ihr Charles noch zu widmen gedachte.
»Ich begleite Euch«, sagte Madame de Polignac mit einem diskreten Seufzer. »Die verflixte Rampe ist mir immer noch lieber als der Wehrgang, in dem es so grauenhaft zieht.«
Sie betraten den Turm mit der spiralförmigen Rampe, die vom Schloss hinunterführte. Dank der Erweiterungsbauten von Ludwig XII. konnten jetzt mehrere Pferde nebeneinander die breite Rampe hinauf oder hinunter und mussten nicht mehr hintereinandergehen, was sehr gefährlich gewesen war.
Der König war sehr stolz auf diesen Umbau. Es gab nämlich nur in ganz wenigen Schlössern Rampen, die breit genug waren, dass Pferde samt Kutsche zu den herrschaftlichen Wohngebäuden hinauffahren und dort wenden konnten, ohne dass man ausspannen musste. Und die Rampen, auf denen mehrere Reiter nebeneinander Platz hatten und sich nicht ständig ausweichen mussten, waren ebenfalls sehr selten.
Plötzlich kniff Louise, die noch immer die Schwalbe in der Hand hielt, die Augen zusammen, weil sie einen Karren zu ihnen heraufkommen sah.
»Ich dachte, wir hätten gar keine Lieferung bestellt«, wunderte sich Louise. »Was mag so wichtig sein, dass es nicht bis zum Frühjahr warten könnte?«
Jetzt versuchte auch Antoinette zu erkennen, was der
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