Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
um und sah ihre Tochter überrascht an.
»Was willst du denn sonst machen?«
»Ich möchte so oft wie möglich reisen. Ich werde nach Amboise fahren, um Euch zu besuchen, und nach Blois, um François zu treffen.«
Ganz vorsichtig, um sich nicht an den Nadeln zu stechen, zog sie das Kleidungsstück aus, das einmal ihr weißer Reifrock werden sollte.
»Bitte seid mir deshalb nicht böse, Mutter. Aber Ihr wisst doch, dass ich nicht lange ohne meinen Bruder sein kann.«
»Das stimmt!«, rief François. »Auch wenn Marguerite heiratet, darf man uns nicht auseinanderreißen!«
Marguerite hob ihre Arme hoch, und der Schneidermeister zog ihr das feine weiße Batisthemd über den Kopf. Ein anmutiger weißer Busen kam zum Vorschein, und alle durften die kleinen, runden Brüste mit ihren rosa Spitzen bewundern.
»Habt Ihr deshalb nicht auch immer alle Heiratskandidaten verworfen, die aus dem Ausland stammten?«, fragte sie ihre Mutter. »Spanien, England, Italien, Österreich – alles viel zu weit weg, als dass ich François vor den ständigen Attacken schützen könnte, denen er in Zukunft ausgeliefert sein wird.«
Sie hob den Reifrock vom Boden auf und reichte ihn dem Schneider. Ihr nackter Oberkörper, die zierliche Taille und ihre wohlgeformten, schlanken Hüften boten einen schönen Anblick, den jeder Maler nur zu gern festgehalten hätte.
»Wenn François erst gekrönt ist, wird es nicht zu viel sein, wenn wir beide ihn nach Kräften unterstützen, Mutter.«
Mit einem Lächeln gab Louise ihrer Tochter zu verstehen, dass sie gewonnen hatte. Sie kannte Marguerite viel zu gut, als dass sie ihre Äußerungen erstaunen konnten – besonders wenn es um François ging. Außerdem hatte sie ja alles dafür getan, dass ihre beiden Kinder genauso wurden, wie sie jetzt waren.
Durfte sie mit dem Ergebnis etwa nicht zufrieden sein? Sie nickte also nur kurz zum Zeichen ihres Einverständnisses, ließ die beiden allein weiterreden und zog sich mit Charles de Bourbon zurück.
Als René den Kopf durch den Türspalt steckte, sah Louise von ihrer Lektüre auf. Wie immer blieb der Page abwartend stehen, bis sie sich an ihn wandte.
»Was willst du, René?«
»Dame Briçonnet wünscht Euch zu sprechen. Könnt Ihr sie empfangen?«
»Catherine? Aber natürlich! Bestimmt ist sie untröstlich über den Verlust ihres Gatten. Aber ich glaube nicht, dass sie mir von ihrem Unglück erzählen will. Wahrscheinlich hat sie mir etwas Wichtiges zu berichten. Bring sie zu mir herauf. Wir haben einiges zu besprechen, und da will ich ungestört sein.«
Wenige Minuten später stand Catherine Briçonnet, verheiratete Bohier, vor ihr, und die beiden Frauen umarmten sich herzlich.
»Meine arme Catherine«, begann Louise schließlich, »es tut mir so leid, dass Ihr Euren Mann und auch noch Euren Bruder verloren habt, der wie ein Sohn für Euch war.«
»Krieg ist nun einmal grausam. Was soll man machen?«
»Hören diese Italienkriege denn nie auf? Ich zittere jetzt schon bei dem Gedanken, François könnte bald nach Mailand ziehen.«
»Für einen König ist der Gedanke natürlich verlockend«, meinte Catherine Briçonnet. »Er muss Mailand erobern, weil das Fürstentum schon immer Apanage des Hauses Orléans war, und über Neapel will er herrschen, weil es früher den Herzögen von Anjou gehört hat.«
Louise schien nicht recht überzeugt und seufzte.
»Diesmal hat der König auf der ganzen Linie gewonnen, aber wie wird es sein, wenn er von seinem nächsten Feldzug zurückkommt?«
»Vor allem, wenn man bedenkt, wie unerbittlich die Italiener von Natur aus sind«, gab sie ihrer Freundin recht. »Man muss nur daran denken, wie plötzlich sich die Florentiner gegen Frankreich gewandt haben, zu dem sie eben noch freundschaftliche Beziehungen gepflegt hatten. Und erst die Venezianer – kaum hatten sie sich gegen ihren Papst und obersten Herrn erhoben, als sie auch schon wieder Mitleid heischend zu ihm zurückkehrten. Wie soll
man das alles verstehen, noch dazu wenn man dabei seine Liebsten verloren hat?«
Louise nickte traurig.
»Hat Euch der Tod von Sire Briçonnet nicht sehr niedergeschlagen?«
»Doch, Louise, natürlich. Aber Ihr kennt mich ja, ich lasse mich nicht unterkriegen. Viel zu viel steht für mich jetzt auf dem Spiel, als dass ich in Verzweiflung versinken dürfte. Wusstet Ihr, dass Alix ebenfalls ihren Geliebten verloren hat?«
»Ich habe es soeben aus dem Mund des Königs erfahren«, sagte Louise, »und der hatte es von
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