Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Tatsachen kam, zwar etwas wackelig auf den Beinen, aber wach und konzentriert. Als er ihr vergnügt zuzwinkerte, erklärte sie mit einem strahlenden Lächeln:
»Wenn mein Sohn König ist, darf ich mir in solchen Diskussionen keine Blöße geben.«
Sie sah, dass es ihm schier den Atem verschlug, weil sie das so bestimmt gesagt hatte.
»Wenn er König ist?«, wiederholte er verblüfft.
»Ich bitte Euch, Charles, Ihr werdet ja wohl wissen, dass mein Sohn Thronfolger ist.«
»Schon, aber wenn Königin Anne …«
»Königin Anne wird nie den Thronerben bekommen, den sie sich so sehr wünscht!«, schnitt sie ihm das Wort ab.
Prompt fasste sich der Duc de Bourbon und wechselte zu einem scherzhaften Ton:
»Nun, wenn Ihr das so seht!«, schloss er amüsiert.
»Ich sehe noch ganz andere Dinge, lieber Cousin. Zum Beispiel wie auch Ihr Euch in die königlichen Sphären begeben könntet. Hättet Ihr dazu etwa keine Lust?«
Freundschaftlich nahm sie ihn am Arm und führte ihn weg,
nicht ohne vorher noch einen Blick auf die Waffen an der Wand zu werfen.
»Kommt mit, verlassen wir diesen barbarischen Ort und reden lieber am Ufer der Loire weiter.«
Beim Verlassen des Waffensaals traten sie gleichzeitig durch die Tür und berührten sich mit den Schultern. Louise hatte sofort das Gefühl, Charles de Montpensier nutzte diese Gelegenheit aus, um ihr näherzukommen.
»René! Bring mir mein Cape«, rief sie ihrem Pagen zu, der sich in Erwartung eines derartigen Befehls auf dem Korridor versteckt hatte.
»Heute wird ein schöner, warmer Tag, aber so früh am Morgen ist es doch noch kühl.«
Doch dann wartete sie nicht auf das verlangte Cape; weil sie wusste, dass René es nicht so schnell finden würde, zog sie ihren Gast bis hinauf auf den Felsen über der mächtigen Tour des Minimes, den Spitztürmen und der zierlichen Balustrade des Schlosses.
Zu dieser Stunde perlte der Fluss wie durchsichtiges Silber, und die Weinberge in der Ferne wirkten beinahe unwirklich.
Sie wanderten zu der Terrasse hinunter, die im Licht der aufgehenden Sonne badete, und Louise ging extra langsam, um den jungen Herzog mit der Schönheit dieser Landschaft in zarten Pastelltönen zu gewinnen.
»Die Loire scheint Euch all ihre Geheimnisse verraten zu haben, Louise.«
Sie erschauderte, als er sie beim Vornamen nannte, als wären sie gute alte Bekannte.
»Ist Euch kalt?«, fragte er nun, und seine Stimme hatte wieder einen anderen Ton.
Sie wusste sehr gut, dass sie in voller Absicht die Fäden zu einer
ganz besonderen Liaison weben würde, wenn sie jetzt mit ja antwortete. Andere Begegnungen und Berührungen würden folgen, vielleicht sogar große Gefühle. Bereits jetzt brodelte in ihr eine Mischung aus Rachedurst und Leidenschaft.
Erinnerungen stürmten auf sie ein, an das Erbe, das sie nie erhalten hatte, die Verführungskunst, die Jugend und die Macht eines Mannes, den sie unter anderen Umständen hätte lieben können, den Reichtum eines Mannes, der zum Gatten einer anderen bestimmt war.
Sie sah zum Horizont, wo der Fluss ihren Blicken entschwand, und rieb sich heftig die Schultern.
»Ihr zittert ja, Louise.«
Da wandte sie ihm plötzlich ihr Gesicht zu und schaute ihm in die Augen. Einen Moment lang musterten sie sich prüfend, und Louise spürte, dass er eine Geste oder ein ermutigendes Wort von ihr erwartete.
»Mir ist kalt«, hörte sie sich schließlich flüstern.
Sofort zog er sein weißes Wams aus und streifte es ihr behutsam über, dann legte er ihr einen Arm um die Schultern und sie spazierten schweigend am Ufer der Loire entlang, deren Wasserblau sich allmählich mit dem Azurblau eines wolkenlosen Himmels vereinte.
5.
Alix kannte Schloss Blois und war verblüfft, wie sehr es sich durch die Renovierungsarbeiten verändert hatte. Louis XII. hielt sich hier viel öfter auf als früher, und auf dem Schloss wurde ständig gefeiert. In Blois führte der König seine diplomatischen Verhandlungen, hier erledigte er finanzielle Transaktionen, verfasste seine Erlasse, empfing Gesandte, unterzeichnete Dekrete und Verträge, und hier fanden auch die wichtigsten Treffen statt.
Die Künste blühten am Hof von Blois, und die Erweiterung des Horizonts, ausgelöst durch die Italien-Feldzüge, zog eine Renaissance der gesamten französischen Kultur nach sich.
Davon profitierte natürlich auch Amboise, und obwohl sich die Vergangenheit nicht ohne Weiteres abschütteln ließ, wirkten doch überall die Sehnsucht und das Streben nach
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