Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Tatendrang. Wie bei seiner Schwester war auch sein offenes, hübsches Gesicht jederzeit zu einem Lachen bereit.
Mit seinen langen Beinen, der aufrechten Haltung und den breiten Schultern versprach François d’Angoulême, der Herzog von Valois, ein flotter Kerl und ein schöner Herr zu werden.
Erst auf den zweiten Blick erkannte man, dass Marguerite doch ganz anders als ihr Bruder war. Abgesehen von ihrer natürlichen Anmut und ihrer fröhlichen Art kennzeichneten Sanftmut und Selbstvertrauen das Wesen des jungen Mädchens.
Sie war von dieser eigenartigen Mischung, die anzieht und verführt. Von der Mutter hatte sie die Weisheit, von ihrem Vater das übersprühende Temperament geerbt. An seinen Sohn hatte der Comte d’Angoulême diesen Charakter aber uneingeschränkt weitergegeben, sodass sich François zunächst auf die Rolle des fröhlichen Kerls beschränkte, dem es nie gefährlich genug sein konnte, und der es liebte, Schlachten und Kämpfe im Spiel nachzustellen.
Mit einem Wort, alle Arten körperlicher Ertüchtigung betrieb er voller Leidenschaft und überließ es seiner Schwester, sich auf intellektuellem Gebiet zu behaupten.
Seit Königin Anne ihre zweite Tochter geboren hatte, setzte König Ludwig XII. alle Hoffnungen auf François und hatte nur noch eins im Sinn, nämlich ihn auf seine Rolle als Thronfolger vorzubereiten.
Die Zukunft des jungen Mannes schien damit auf einmal so klar
und eindeutig, dass Louise überglücklich war, was sie allerdings geschickt zu verbergen wusste. Mit ihren Anfang dreißig wirkte sie vor lauter Glück so charmant wie nie. Hätte man ihr aber einen jungen, reichen Bräutigam vorgestellt, hätte sie eine Ehe gewiss sofort abgelehnt aus Angst, sie könnte den Aufstieg ihres Sohnes gefährden.
Während der junge, eben erst zwanzig Jahre alte Duc de Bourbon ihre sinnlichen Gelüste weckte, schmiedete Louise bereits Pläne, wie sie ihrem Sohn und Herrscher in den kommenden Jahren besser zu Diensten sein konnte.
In dieser Zeit traten Louise und Marguerite mehr und mehr aus dem Schatten von Königin Anne hinaus in ein strahlendes Leben, dessen Annehmlichkeiten und Privilegien sie von Tag zu Tag mehr zu schätzen lernten.
Was den glücklichen François, den kleinen Cäsar, betraf, den die beiden Frauen geradezu vergötterten, so hatte er sich in seinem ganzen Leben nicht einen Augenblick eine andere Zukunft für sich vorstellen mögen als die, die ihm beschieden schien.
Und weil die Comtesse nun endlich alle Entscheidungen selbst treffen konnte, beschloss sie, eine Gouvernante für ihre Tochter einzustellen.
Denn abgesehen von den weitreichenden Plänen, die die Zukunft ihres Sohnes betrafen, worum sich aber der König höchstpersönlich kümmern wollte, führte Louise den Hof von Amboise äußerst umsichtig und geschickt. Ihr gutes Gespür und ihr ausgeglichenes Wesen wurden durch ihren ausgeprägten Sinn für Fantasie ergänzt, weshalb es auch auf Amboise nicht so streng und lustlos zuging wie in Blois, wo nur die großen Festlichkeiten Abwechslung schenkten.
Während Louise freiwillig nie zugestimmt hätte, dass Marschall
de Gié sich um ihren Sohn kümmerte, war sie andererseits sehr für die Einstellung einer Gouvernante, die ihrer Tochter Freundin und Anstandsdame zugleich sein sollte. Louise hatte also eine Vorauswahl getroffen – die endgültige Entscheidung lag bei Marguerite.
So machten die angesehensten jungen Damen des französischen Adels ihre Aufwartung in Amboise, und Marguerite verpasste keine einzige dieser Vorstellungen. Louise wollte vor allem, dass ihre Tochter Sympathie empfand für die Frau, die sie in alle Regeln eines vorbildlichen Benehmens einweihen und mit den Sitten und Gebräuchen vertraut machen musste, die sie auf eine Ehe und ihre wichtige Rolle an der Seite des künftigen Königs von Frankreich vorbereiten sollte.
Blanche de Tournon oder Madame de Chatillon war eine hübsche junge Witwe, die für Marguerite nicht nur eine Zofe, sondern eine kluge Freundin und eine aufmerksame und besonnene Ratgeberin werden sollte.
Nach all den Jahren der erzwungenen Vormundschaft war Louise nun endlich allein für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich und wollte in enger Verbindung zu allem bleiben, was damit zusammenhing.
Dame de Chatillon, Blanche de Tournon, gefiel Louise und ihrer Tochter auf Anhieb. Ihr blasser Teint wirkte so zart und durchscheinend wie Meißner Porzellan. Marguerite sagte später einmal, in ihren merkwürdig sanften,
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