Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
heiteren blauen Augen hätte sie nie auch nur einen Hauch von Zorn gesehen. Das schwarze Haar verbarg sie unter einer Samthaube, die immer ausgezeichnet zu ihrer übrigen, meist dunklen Toilette passte und deren Spitzen ihre hübschen Ohren versteckte.
Sie konnte sticken und malen, singen und Harfe spielen – allesamt Tätigkeiten, die eine Prinzessin von Rang bis zur Perfektion beherrschen sollte.
Neben diesen Fertigkeiten hatte Louise bekanntlich nie die intellektuellen Fähigkeiten ihrer Tochter vernachlässigt, die sie nun mit Madame de Chatillon weiterentwickeln sollte.
Marguerite konnte also sogar über griechische Grammatik oder Literatur mit ihrer Gesellschaftsdame diskutieren. Einzig bei den Fremdsprachen konnte diese nicht mit ihr mithalten, weil das junge Mädchen Italienisch, Spanisch und Englisch sogar besser als ihre Mutter sprach, worüber sich Louise gar nicht genug freuen konnte.
Als Marguerite am Morgen aufwachte, schwärmte sie ein wenig bei der Vorstellung, sie könnte im Laufe des Tages wenigstens einen flüchtigen Blick aus den hellgrauen Augen von Seigneur de Nemours erhaschen, den François zum Kampf mit dem Degen herausgefordert hatte.
Gaston de Foix, Seigneur de Nemours, sollte nämlich an diesem Tag den Hof von Amboise mit einem kurzen Besuch beglücken. Seine Soldaten nannten ihn den »italienischen Blitz«, und Nemours war der jüngste General der französischen Armee.
Dieser hitzköpfige, ungestüme und hoffnungsvolle schöne Edelmann hatte mit François Freundschaft geschlossen. Beide waren beseelt von dem gleichen Kampfgeist und maßen sich, seit sie ihre Freundschaft besiegelt hatten, so oft es ging mit den Waffen.
Marguerite zog die bestickten Bettvorhänge zurück und sah einen schmalen Streifen Tageslicht durch einen Spalt in dem dicken Vorhang vor ihrem Fenster blitzen.
Prunelle schien noch tief und fest zu schlafen und bewegte sich kaum, als das junge Mädchen aufstand und einen prüfenden Blick auf den Schlosshof warf.
Weil sich dort noch nichts rührte, schlüpfte sie wieder ins Bett, träumte von dem kommenden Tag und wartete darauf, dass Madame de Chatillon an ihre Tür klopfte.
Inzwischen war es nämlich ihre junge Gouvernante, die sie jeden Morgen weckte, und nicht mehr das Zimmermädchen ihrer Mutter, Catherine.
»Herein!«, rief sie, als sie es leise an ihre Tür klopfen hörte.
Blanche de Tournon betrat Marguerites großes, luxuriös eingerichtetes Zimmer, ging zum Fenster und öffnete die Vorhänge.
Prunelle war wie geblendet, vorsichtig blinzelte sie mit einem Auge, wedelte mit dem Schwanz, leckte sich die Pfoten und ließ sich endlich überzeugen, dass es Zeit war aufzustehen.
»Habt Ihr gut geschlafen, Marguerite?«
»Wie ein Murmeltier«, antwortete Marguerite gut gelaunt.
Sie blickte zum Fenster, durch das nun goldenes Sonnenlicht ins Zimmer strömte.
»Seht nur, Blanche, die Sonne scheint schon. Heute wird bestimmt ein wunderschöner Tag!«
Obwohl sie sich ein wenig um die Antwort sorgte, fragte sie dann:
»Warum habt Ihr denn heute nicht etwas freundlichere Farben gewählt, Blanche? Pastelltöne stehen Euch so gut zu Gesicht!«
Madame de Chatillon musste lächeln, und als sie sah, dass Marguerite ihre seidene Steppdecke zurückschlug, setzte sie sich zu ihr auf die Bettkante. Prunelle war jetzt richtig wach und wurde auch gleich ungeduldig. Erst sprang sie auf den Boden, dann hüpfte sie munter zurück auf das Bett und leckte ihrer Herrin übers Gesicht.
»Wirklich, Blanche«, fuhr Marguerite fort und versuchte sich von dem Hündchen zu befreien, das seinen Kopf unter die weichen Kissen steckte, »diese düsteren Farben sind gar nichts für Euch.«
Blanches Lächeln wurde noch etwas breiter, aber es sah ein wenig danach aus, als müsste sie sich dazu zwingen. Sie nahm Marguerites Hände.
»Ihr wisst sehr gut, dass ich noch um meinen verstorbenen Mann trauere.«
»Das wiederholt Ihr nun schon seit sechs Monaten. Seit sechs Monaten sind wir jetzt schon zusammen, und als Ihr nach Amboise kamt, war Eure Trauerzeit eigentlich bereits vorbei.«
»Ach, das ist schwieriger als Ihr euch vorstellen könnt«, seufzte Blanche.
»Das glaube ich nicht«, widersprach ihr Marguerite ausgelassen. »Ihr müsst einfach nur diese triste Trauerkleidung wegräumen und schöne, leuchtende Farben anziehen.«
Sie sprang ans Fußende ihres Betts, zog ihr Nachthemd aus und plapperte fröhlich weiter:
»Wisst Ihr was, morgen lassen wir den Schneider und die
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