Die Traenen Des Drachen
stand auf und rief: »Bul! Bile, Vile! Worauf wartet ihr?«
»Vile will nicht.«
Loke löste den Rucksack vom Seil und stellte ihn neben mich.
»Er muss!«
Loke bekam darauf keine Antwort. Kurz darauf seilten sich Bul und Bile ab, und schließlich kletterte auch Vile wie eine junge Katze an einem Baumstamm nach unten. Bile half ihm in die Felshöhle hinein und zog am Seilende. Während Loke das Seil aufwickelte und Vile sich über die Höhe, das Wetter und die Lawine beschwerte, bemerkte ich, dass es hell zu werden begann. Das Sonnenlicht blinzelte über das Meer im Osten, und die blauen Schatten hinter den Schneeverwehungen schrumpften zusammen.
Wir seilten uns von Absatz zu Absatz ab. Manchmal mussten wir hin und her schaukeln, um Halt zu finden, wenn wir das Ende des Seils erreicht hatten. Wo wir keine Steine fanden, um die wir die Tauschlingen legen konnten, hackten wir mit unseren Speeren einen Haken ins Eis. Es ging rasch hinunter bis auf die Geröllhalde, und der Abstieg vom Gebirge, den ich für den schwierigsten Teil unserer Reise gehalten hatte, wurde der leichteste. Gegen Mittag waren wir unten und schoben uns auf den Skiern über den Lawinenschnee. Als wir den letzten Abhang vor der Ebene erreichten, hielten wir an und aßen. Bile zeigte mir, wie ich mich bewegen sollte, und beugte dabei ein Knie weit herunter, und den Rest des Tages fuhren wir am Fuß des Berges entlang.
Nachdem wir am Abend Schutz hinter einem Felsbrocken gefunden hatten, stapelte Loke das Holz zu vier Haufen auf.
»Für vier Nächte«, sagte er. »Ich habe die Entfernung berechnet, seit wir in die Berge gegangen sind, und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass wir vier Tagesmärsche auf der Ebene von der Felsenburg entfernt sein müssen. Wenn wir ankommen, müssen wir uns beeilen, die Wurzel zu finden.«
Ich rollte mich unter dem Schafsfell zusammen und sah Bul an, der in die Glut unter den Zweigen blies, die uns die ganze Nacht warm halten sollten. Die Wurzel finden… Jetzt begann das Schlimmste.
Die Tränen des Drachen
D eine Mutter, Ekri, war eine gute Freundin von mir. Als sie klein war, hat sie wie ihr jetzt meinen Worten gelauscht. Ja, sie saß dort hinten, auf der anderen Seite des Feuers, und hörte mich oft erzählen. In ihrer Generation war sie eine der wenigen, die zuhören wollten. Ihr seid da klüger, Freunde. Ihr habt keine Angst, eure Gedanken schweifen zu lassen. Ich begreife nicht, warum sich eure Eltern vor meinen Worten fürchten.
Du weißt, dass deine Mutter bei deiner Geburt starb, Ekri. Du hast viele Male von diesem Tag gehört. Doch was du nicht weißt, ist, dass ich einen Traum hatte, als ich inmitten der weinenden Stimmen um mich herum einschlief. In diesem Traum reiste ich weit weg bis in ein Land, in dem verbrannte Ebenen ins Meer münden. Dort gab es auch ein Gebirge, und auf dem Gipfel des Gebirges lag ein Drache. Er war so groß wie die Felsenburg, Kinder, und am ganzen Körper mit roten Schuppen bedeckt. Und alles war so still. Kein Windhauch unter meinen Flügeln und nicht eine Welle auf dem Meer. Alles schien zu schlafen.
Ich kreiste über dem Drachen nach unten und setzte mich auf einen Felsen. Dort faltete ich meine Flügel zusammen und senkte meinen Kopf. Die Stille lastete schwer auf meinen Schultern. Unsichtbarer Nebel lag wie der Feenschleier, der dem Tag Lebewohl sagt, über dem Gebirge.
Da sah ich, dass der Drache wach war. Er hob seinen Kopf und sah mich an. Es war der gleiche Drache wie in dem Traum, in dem ich von der Schlacht gegen Tarkin geträumt habe. Hier hatte er eine Zuflucht gefunden. Hier versteckte er sich als Letzter seiner Rasse. Aber hatte er sich nicht in einen Raben verwandelt, als er durch den Regen der Pfeile davongeflogen war? Und hatte er nicht hinter einer Wand von Klippen Zuflucht gefunden? Ich schlug mit den Flügeln, warf den Kopf in den Nacken und begriff mit einem Mal, dass ich selbst es war, den ich dort betrachtete. Die blauen Augen waren meine Augen und die geschuppten Flügel meine Flügel.
Und ich hörte etwas durch den Nebel, einen Laut, der der Stille einen Namen gab. Es klang wie ein schmilzender Eiszapfen im Frühjahr. Tropfen in den Schnee. Und ich sah die Tränen, die über die Schuppenhaut herabrannen. Meine Tränen. Und wie ein weit entferntes Flüstern hörte ich in meinem Innern eine Stimme. Kraggs Stimme.
»Ich warte«, sagte sie. »Ich warte wie du, denn mein Volk soll sich wieder erheben.«
Der Drache blickte weg und schlug
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