Die Tränen des Herren (German Edition)
Jocelins Schreien durch Mark und Bein gegangen. Doch nach dieser Prozedur begann es ihm Tag um Tag besser zu gehen...
Raimond klopfte sich den Staub von der Tunika und wollte sich zu den Brüdern gesellen. Da erhob sich Jocelin. „Wartet, Bruder Raimond! - Yvo, leiht mir Euer Schwert!”
„Jocelin, nein! Ihr seid noch viel zu krank!” Ghislaine war aufgesprungen und es hätte nicht viel gefehlt, dass sie ihn festgehalten hätte. Im letzten Moment bezwang sie sich, hoffend, dass sie ihre Gefühle mit dieser Sorge nicht allzu deutlich nach außen getragen hatte.
„Ich muss üben. Vielleicht sind wir bald gezwungen, um unser Leben zu kämpfen! Wer weiß, wie lang wir hier noch in Sicherheit sind!“
Die Ordensbrüder wussten nur zu gut, dass er Recht hatte. Die Suche nach seinem entflohenen Gefangenen und dessen Helfern hatte sich bei König Philipp zu einer regelrechten Besessenheit gesteigert. Jocelin griff nach Yvos Schwert. Die kleine, leichte Waffe wog ihm schwer wie Blei. Mit zusammengebissenen Zähnen suchte er sie zu heben und in Angriffsstellung zu gehen. Aber sein rechtes Bein knickte unter ihm weg und die Klinge rutschte ihm aus der Hand.
„Ich bin immer noch so schwach wie ein Milchkind!” murmelte er, sich mit Raimonds Hilfe wieder erhebend. Ghislaines besorgten Blick mied er.
„Ah, Sire Jocelin, für einen, der noch vor zwei Monaten dem Tod die Hand geschüttelt hat, geht es Euch schon ganz gut!” entgegnete Raimond.
In diesem Augenblick hallten Hufschläge von den Felswänden wider. Der Posten oben auf dem Rand des Kessels winkte. Also gab es nichts zu befürchten. Es waren Ranulf und Guy, vor einigen Tagen als Kundschafter nach Paris gesandt, die kurz darauf in den Kreis der Brüder ritten.
„Es gibt gute Nachrichten!”
„Komtur Robert?” fragte Jocelin hoffnungsvoll.
„Ja. Er lebt, und es geht ihm gut. Der Bischof von Paris hat vor einem halben Jahr seine Auslieferung durchgesetzt, und so ist er jetzt in einer Kammer des Bischofspalais.”
„Konntet ihr ihn sehen?”
Guy nickte. „Ich sage Euch, das ist ein heiliger Mann! Als ich mit ihm sprach, da hatte ich das Gefühl, es gäbe keine Mauern mehr um uns, sondern alles wäre Licht und Liebe Gottes! Ich sagte, wir würden alles daransetzen, ihn zu befreien, aber er lehnte ab. ‘Ich bin frei, beau frère.’ hat er gesagt, und wir sollten nichts aufs Spiel setzen um seinetwillen.”
„Aber vielleicht wird er doch bald frei sein“, fuhr Ranulf fort. „Papst Clemens hat die Templer vor das Konzil zitiert. Dort will er über unsere Sache entscheiden.“
Zu viele Enttäuschungen hatten die Ordensbrüder erlebt, als dass diese Worte übermäßige Freude auslösen konnten. Ruhig hörten sie zu, was Ranulf von dem Dekret berichtete, dass an Notre Dame angeschlagen worden war.
„Das ist alles?!“ rief Jean de Saint-Florent dann. „Keine Schutzzusage für die Zeugen? Kein freies Geleit? Das ist ein Hohn!“
Enttäuschtes Murmeln gab ihm Recht. Niemand würde sich so vor dem Konzil melden können. Aber was erwarteten sie auch, nachdem Philipp de Marigny die Leitung des Sonderausschusses übernommen hatte?! Jetzt würde er zu Ende führen, was er damals mit der Verbrennung ihrer Brüder in Paris begonnen hatte!
In der Nacht darauf wurde Jocelin vom leisen Rascheln von strohumwickelten Pferdehufen aufgestört. Wer verließ da die Höhle, und offenbar heimlich? Leise Stimmen waren zu hören. Bruder Arnaud und Guy? Er stützte sich hoch und folgte auf seine Krücke gestützt den Geräuschen aus der Höhle hinaus in den Talkessel. Verwundert erblickte er im ersten matten Schein des Morgens seinen Pflegevater zu Pferde, gekleidet in sein Ordensgewand! Und neben ihm Bruder Guy auf einem zweiten Reittier.
„Arnaud, was habt Ihr vor, bei allen Heiligen?!“ Hatte sich der Verstand des alten Mannes endgültig umnachtet?!
„Ich hatte gehofft, niemand würde uns bemerken. Nun denn…“
„Arnaud!“ So rasch er konnte, legte Jocelin die restliche Wegstrecke zurück und versperrte seinen beiden Ordensbrüdern den Weg hinaus.
„Lass uns passieren, ich bitte dich. Ich reite nach Vienne, vor das Konzil.“ Arnauds Stimme klang ruhig und gefasst, nicht wie die eines Verwirrten. „Ich werde den Orden verteidigen.“
„Was?! Allein? Das ist –“
„Jocelin, lass mich gehen. Es ist das Letzte, was ich tun kann, um meine Verbrechen zu sühnen. Ehe es zu spät ist…“
„Nein!“ Entschlossen griff Jocelin in die Zügel des
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