Die Tränen des Herren (German Edition)
ängstlich als wütend: “Ich bin der Graf von Montfort! Ich... ich beschwere mich beim König!“
„Der König lässt Dieben die rechte Hand abhauen.“
Ghislaine sah vom Fenster aus zu, wie Jocelin ihrem Sohn die Hiebe verabreichte. Zuletzt standen ihr ebenso Tränen in den Augen wie Yvo. Als der Junge mit hängendem Kopf im Palais verschwunden war, trat sie zu Jocelin. „Glaubt Ihr, dass es helfen wird?“
„Es ist hart. Aber die Strenge ist notwendig. Jetzt hasst er mich, doch bald wird er merken, dass er im Grunde sich selbst hasst. Morgen wird er zu den Lektionen erscheinen, und er wird sich anstrengen, um mir zu zeigen, wer er ist.“
„Gebe es Gott! - Ihr kennt Euch aus, Sire. Wo habt Ihr das gelernt?“
„Auf Zypern, das meiste. Ich ... ich hatte zwei jüngere Brüder...“
„Wollt Ihr mir die Freude bereiten, und über die Stätten berichten, an denen unser Herr Christus gelebt und gelitten hat, Jocelin? Ich habe mir immer gewünscht, selbst einmal nach Jerusalem zu reisen!”
„Wenn es Euer Wunsch ist. Gern, Madame.“ Eigentlich hätte er sich lieber zurückgezogen. Aber er wollte auch keinen Verdacht erregen.
Jocelin saß lange bei Ghislaine am Kamin und erzählte von Palästina. In diesen Stunden fand zum ersten Mal seit langer Zeit in seiner Seele etwas anderes Raum als das verzweifelte Ringen um Gerechtigkeit für seinen Orden, oder die Frage, wo sie etwas fanden, um ihre Mägen zu füllen.
„...Den ersten Ort, den wir auf unserer Prozession besuchten, war die Kapelle des Heiligen Kreuzes, dort wo die Kaiserin Helena das Kreuz unseres Herrn gefunden hat“, erinnerte er sich an den Besuch in der Grabeskirche von Jerusalem. Er war kaum acht Jahre alt gewesen damals; umso wunderbarer erschien ihm alles im Rückblick. „Überall auf den Stufen entlang der Wände knieten und standen die Pilger, um kleine Kreuzzeichen in den Stein zu ritzen, zum Zeichen, dass sie da waren. Sie erzählten sich, dass wer hier sein Siegel auf diese Weise hinterlassen hat, am Jüngsten Tag nicht zu den Verlorenen gezählt würde. Dann gingen wir wieder hinauf, bis zum Altar über Golgotha und hörten die Messe.“
„Und das Grab Christi? Mein Großvater erzählte mir, dass Tag und Nacht gewaltige Kerzen ringsherum brennen...“
„Ja, das stimmt. Sie waren höher als ich damals. Und die große Kuppel der Kirche ist offen, damit immer die Engel auf und absteigen können zum Grab.“
Das Feuer warf ein unwirkliches Farbenspiel über ihre Gestalt. Sie lächelte und hatte die Augen halb geschlossen Er fühlte sich an das Bild der Heiligen Jungfrau in der Kirche von Provins erinnert - und realisierte einen Moment später das Blasphemische dieses Gedankens. Hastig starrte er zu Boden.
„Verzeiht mir!“ sagte Ghislaine, seine Reaktion missdeutend. „Es muss furchtbar gewesen sein, Eure Heimat zu verlieren. Es tut mir leid, wenn ich Euch diesen Kummer zurückgebracht habe.“
„Nein. Nein, ich... denke gern an die Zeit zurück, bevor -“ Er unterbrach sich, hätte fast gesagt ‚bevor der Orden sich nach Zypern zurückzog‘. „Bevor wir uns nach Zypern retteten.“
„Trotzdem ist Euer Gesicht jetzt zu traurig, als dass ich Euch so gehen lassen könnte. Das bringt Unglück!“ Sie griff nach der Laute, die über dem Kamin hing.
Doch Jocelin erhob sich.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe, Madame. Es ist schon spät und ich habe wieder Schmerzen.”
„Ah, vergebt mir, ich denke nur an mich! Ich werde Euch eine Kräutersalbe auflegen.”
„Nein, danke. Macht Euch keine Umstände. Ich wünsche Euch eine gute Nacht!”
Mit einer leichten Verbeugung war er aus der Tür.
Ghislaine blickte ihm nach. Ein wunderlicher Mann….
Aber es tat so gut, einfach nur einmal wieder zu träumen, wie sie es als Kind getan hatte, oben auf dem Burgturm, wenn ihr Großvater ihr vom Heiligen Land erzählt hatte und aus La Blanche das Himmlische Jerusalem wurde.
Während sie sich für die Nachtruhe vorbereitete, machten sich beiden Templer auf in die Burgkapelle. Es war ein kleines, altes Gemäuer, mit einer Decke, die vom Ruß hunderter Kerzen seit ihrer Erbauung geschwärzt war. Zwei Fenster, an der Ost- und an der Westseite waren mit kostbaren Glasscheiben verschlossen worden, deren Bildprogramm jedoch jetzt im Dunkel nicht zu erkennen war. Der Altar war schlicht mit einem weißen Tuch geschmückt. Das seitlich hängende Ewige Licht, eine bauchige Öllampe, beleuchtete schwach das Kruzifix auf der
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