Die Tränen des Herren (German Edition)
Mensa und die an der Seite auf einem Pfeiler stehende Jungfrau mit Kind.
„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sagte Bruder Arnaud, bekreuzigte sich und kniete nieder. Jocelin tat es ihm gleich. Dann begannen sie flüsternd die vorgeschriebene Reihe an Vaterunsern zu beten. Die immer gleichen Worte, die sich wie eine imaginäre Perlenschnur aneinanderreihten, waren wie eine Brücke. Für eine Weile schien die wirkliche Welt mit ihrer Grausamkeit und ihrer Finsternis zu verschwimmen und einer lichteren Heimat Platz zu machen.
„Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme…“
Gott musste sie doch einfach hören, er konnte nicht vor ihrem Flehen die Ohren verschließen, er KONNTE es nicht!
„Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden… Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben jenen, die gegen uns gesündigt haben! Und erlöse uns von dem Bösen! Amen!“
Am nächsten Morgen widmete Jocelin sich weiter der Ausbildung Yvos. Der Junge war diesmal eifrig bei der Sache, wenn auch nur aus Trotz gegenüber seinem Lehrmeister. Ghislaine sah mit einiger Hoffnung, dass ihr Sohn wohl zumindest einen Waffenstillstand mit Jocelin geschlossen hatte. Einen Waffenstillstand allerdings, den er gewillt war, auszureizen und auf die Probe zu stellen, wie sich in den folgenden Tagen erweisen sollte. Manche Kleinigkeit ließ Jocelin ihm durchgehen, doch gab es eine Grenze, bei deren Überschreiten er den jungen Grafen rigoros heran nahm. Zuweilen sah Ghislaine diese Disziplinierungsmaßnahmen mit gemischten Gefühlen – andererseits hatte ihre eigene mütterliche Nachsicht wohl auch nicht zu Yvos Besten gereicht…
Beinahe jeden Abend saß sie dann mit ihren Gästen zusammen und genoss die Abwechslung ihrer Gesellschaft. Auch wenn sie merkte, dass Jocelins Onkel sie nicht sonderlich mochte, das war kaum zu übersehen. Aber nun ja, alte Griesgrame gab es überall! Und allein die Anwesenheit ihrer Gäste genügte, ihrem Heim etwas mehr an Leben zu verleihen. Das hatte sie so lange vermisst!
----
Das strenge Fastengebot sorgte dafür, dass sich am Karfreitag kaum ein Mensch auf der Straße zeigte. Wen die Pflicht hinaus zwang, der schlurfte mit mürrischem Gesicht einher.
Verwundertes Kopfschütteln begleitete Jocelin, als er im Galopp durch Paris ritt, das von der Gräfin geliehene Geld sorgsam in einem Lederbeutel am Körper verstaut.
Am heutigen Tag waren alle Gasthäuser und Schenken verriegelt. Die Kirche hatte alle Lustbarkeiten untersagt, und die Beamten Seiner Allerchristlichsten Majestät sorgten dafür, dass niemand das Verbot übertrat. So dauerte es eine Weile, bis man Jocelin an der Spelunke des Wucherers öffnete.
„Du kommst zu unrechter Zeit!“ knurrte ihm eine Stimme entgegen. „Heute gibt‘s keinen Wein, und auch keine Weiber!“
„Ich will nur meine Schulden bezahlen.“
Auf diese Worte hin schob sich Merot durch die Tür und musterte ihn prüfend.
„Hat wohl etwas länger gedauert, was, Herr Ritter? Was glaubst du denn, wie lang wir den Kerl hier durchfüttern? Fast eine Woche! Wir sind doch kein Hospiz!“
Er riss den Geldbeutel an sich und zählte zweimal die Münzen nach. Dann wandte er sich in den Schankraum um und befahl, den Gefangenen herauszuführen.
Louis stolperte Jocelin vor die Füße. „O Gott, ich dachte, Ihr holt mich nie hier raus!“
„Verzeiht mir“, bat Jocelin, während er seinen Ordensbruder vor den Schrankraum brachte. „Ich konnte es einfach nicht eher bewerkstelligen...“
Er schwang sich auf den Rücken seines Pferdes, half Louis hinter sich auf, und während sie die Stadt mit ihren alptraumhaften Erinnerungen hinter sich brachten, berichtete er, was geschehen war...
„Das heißt also, Ihr werdet noch einige Zeit auf La Blanche bleiben, Sire Jocelin?“ fragte Louis.
„Solang, bis ich das Geld abgedient habe wenigstens, was sie mir für heute geliehen hat.“
„Ah...ich weiß nicht, ob das gut ist“, brachte Louis zögernd vor. „Auf dieser Burg zusammen mit dieser... Frau. Ihr wisst schon...“
„Die Gräfin von Montfort unterhält gute Beziehungen zum Königshof. Das kann uns nur nützlich sein!“
„Aber die Regel verbietet den Umgang mit Frauen. Es könnte sein, dass... nun, ich habe nicht das Recht, Eure Entschlüsse anzuzweifeln, ich habe Eurer Wahl zugestimmt, ich weiß, aber manche Brüder könnten denken, dass Ihr den Orden verraten wollt...“
„Denkt Ihr das?“
Louis senkte
Weitere Kostenlose Bücher