Die Tränen des Herren (German Edition)
den Kopf. „Unser Komtur sagte immer, die Sünden des Fleisches sind es, die schon so viele vom Weg ins Paradies abgebracht haben. Ehe man es überhaupt bemerkt.“
„Das war recht gesprochen. Wir sind Ordensbrüder, und alles, was uns abhält Gott zu dienen, lässt uns dem Teufel dienen!“ Seltsamerweise hatten die Worte, die er selbst so oft von Arnaud gehört hatte, plötzlich einen faden Beigeschmack, als er sie aussprach. Er fühlte sich veranlasst hinzuzufügen: „Aber das ist auch eine schwere Zeit, und wir müssen günstige Gelegenheiten ergreifen!“
Louis nickte nur. Wenig später trennten sich ihre Wege. Louis schlug die Richtung nach Fontainebleau ein, während Jocelin wieder auf La Blanche zuhielt.
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Wieder einmal war nach einem Tadel Yvos Wut mit ihm durchgegangen. Fluchend warf er mit einem Speerstoß die hölzerne Übungspuppe um.
„Nie bin ich Euch gut genug! Leuteschinder! Bettelpack!“ schrie er Jocelin an. „Ich könnte von den besten Rittern des Königs ausgebildet werden!“
„Das wirst du aber nicht, wenn du nicht lernst, dich zu beherrschen!“
„Wenn mein Vater noch hier wäre, würde er Euch vom HOF JAGEN!“
Jocelin griff ihn am Arm. „Dein Vater ist tot. Und du machst ihm Schande.“
Wütend riss der Junge sich los und packte den Speer.
„Nein, genug damit für heute, Yvo.”
„Was ist, seid Ihr schon müde?!”
„Hol’ dein Pferd! Ich will sehen, wie du dich im Sattel hälst!”
„Ha! Jeder weiß, dass ich der beste Reiter in der ganzen Grafschaft bin!”
Der Junge beherrschte sein Pferd tatsächlich meisterhaft. Während sie den steinigen Nordhang hinab galoppierten, nahm er auf seinem Rappen geschickt jedes Hindernis. Jocelin ließ ihm einen Vorsprung und Zeit, seinen Zorn dabei loszuwerden. Erst am Waldrand holte er wieder zu ihm auf.
„Du hattest Recht, du bist ein hervorragender Reiter!” rief er ihm zu.
Yvo zog die Zügel an und drehte sich mit einem triumphierenden Lachen um. Sichtlich mit sich kämpfend fügte er dann hinzu: „Ihr seid aber auch nicht schlecht! Bisher gab’s keinen, der mich hat einholen können. - Sagt, wie viele Sarazenen habt Ihr in die Hölle geschickt?”
„Der Krieg ist kein Turnier, Yvo. Wenn man um sein eigenes Leben kämpft, bleibt keine Zeit, die toten Feinde zu zählen.”
„Mein Vater ist im Krieg gefallen.” Yvos Stimme war leise geworden. „Wenn er noch da wäre… dann…“
„Ich habe auch viele meiner Freunde im Krieg verloren. Es ist furchtbar, ich weiß es.”
In diesem Augenblick zuckte ein Blitz über den Himmel, gleich darauf grollte Donner. Bei ihrem wilden Ritt hatten Jocelin und Yvo nicht bemerkt, wie das Unwetter heraufgezogen war. Wieder blitzte es. Regen setzte ein. Ehe sie das schützende Blätterdach erreicht hatten, waren sie bis auf die Knochen durchnässt.
Jocelin musste an jenen Freitag vor nunmehr sechs Monaten denken, an dem er von Provins aufgebrochen war. Sechs Monate! Und noch immer hatte sich keine Stimme zur Verteidigung des Ordens erhoben!
„Messire Jocelin", fragte Yvo unvermittelt", werdet Ihr mich lehren, wie die Sarazenen kämpfen?”
„Ja. Ja, warum nicht", erwiderte der Ordensbruder noch ganz in Gedanken. Als die ersten Sonnenstrahlen die Wolken durchbrachen und der Regen verebbte, machten sich die beiden durchgefroren auf den Rückweg.
Kaum im Burghof angelangt sprang Yvo ohne einen Gedanken an sein Reittier aus dem Sattel und wetzte in Richtung Küche davon. Auf der Treppe kam ihm seine Mutter entgegen.
„Gütiger Gott! Junge, wie siehst du aus?”
„Wir waren ausreiten.”
Yvo griff nach einem frischen Laib Brot und rutschte nah an das Kaminfeuer.
„Und Sire Jocelin? Wo ist er? Ihm ist doch nichts geschehen?”
„Weiß nicht. Im Stall, denk’ ich“, brachte Yvo zwischen zwei Bissen hervor und schloss genüsslich die Augen, als die Wärme ihn durchdrang.
Ghislaine eilte zu den Stallungen. Jocelin hatte gerade seinem Pferd eine Decke übergeworfen, als sie eintrat.
„Ihr denkt an Euer Pferd, aber nicht an Euch selbst!” Sie nahm ihren Mantel und legte ihn um seine Schultern.” Ihr könnt Euch ja den Tod holen!”
Er wandte sich ihr zu, ein überraschtes Lächeln auf dem Gesicht, über das noch die Regentropfen aus seinem Haar rannen, und Ghislaine fühlte sich plötzlich so verwirrt, dass ihr die Worte fehlten. Mit einer fahrigen Geste tastete sie nach den Haarsträhnen, die ihr in die Stirn hingen. Für Augenblicke, die ihr wie Ewigkeit schienen,
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