Die Tränen des Herren (German Edition)
Ihre rechte Hand ruhte auf einem zierlichen Dolch an ihrer Seite. „Und Ihr, Jocelin, wer seid Ihr?”
Er schwieg.
„Antwortet mir, Sire Jocelin! Ist es wahr, was Floyran sagte, seid Ihr ein Templer?!”
Er antwortete nicht, und dieses Schweigen war beredt genug!
Es ist die Wahrheit! Gütiger Himmel, es ist wahr! Ghislaine fühlte, wie das Entsetzen in ihr Zorn Platz machte. Sie fühlte sich vom Schicksal verraten und hintergangen. ER hatte sie belogen und hintergangen…
„Ihr braucht keine Furcht zu haben. Wir werden La Blanche sofort verlassen“, hörte sie Jocelin endlich wieder sprechen und ihr den letzten Hoffnungsschimmer entreißen, es könnte doch alles eine Lüge sein.
„Ghislaine, wir sind keine Verbrecher! Wir spucken nicht auf das Kreuz und beten keine Götzen an! Man hat uns verleumdet! Männer wie dieser Floyran! Ihr müsst mir glauben, Ghislaine! Wir sind unschuldig!” Er wusste nicht, warum ihm plötzlich soviel daran lag, dass sie ihm glaubte – aber es war so.
Sie musterte ihn schweigend, nicht fähig, irgendetwas zu tun. Waren das Lügen? Die Lügen und Verlockungen der Dämonen, vor denen Floyran sie gewarnt hatte? Und war das der Weg des Verderbens, der sich vor ihr ausbreitete? Nein. Nein, sie musste Jocelin glauben! Sie musste es ganz einfach, denn sonst, hatte sie das Gefühl, würde die Welt über ihr zusammenstürzen... Er konnte kein Ketzer sein! Sie konnte sich nicht so in ihm getäuscht haben!
„Ich wende mich an den König!“ entschied sie, tief Atem holend. „Er muss davon erfahren!“
„Madame Ghislaine, es war König Philipp, der den Befehl zu unserer Verhaftung gab, und zur Folter meiner Brüder. Er glaubt nicht nur den Verleumdungen, er hat bisher auch alles darangesetzt, dass wir unsere Unschuld nicht beweisen!”
Wie war das möglich? Philipp? Wie konnte Philipp so etwas Abscheuliches tun?! Sie schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte langsam den Kopf.
„Was...was wollt ihr jetzt tun?” fragte sie dann.
„Wir müssen fort von La Blanche, nachdem Floyran von unserer Anwesenheit weiß. Soviel steht fest. Wir werden versuchen, auf dem Ständetag etwas zu erreichen.”
„Auf dem Ständetag...“ Ghislaine versuchte, ihre wirr durcheinander jagenden Gedanken zu ordnen. „Mein Onkel, Erzbischof Gregor.... Er wird sicher zu den Abgesandten gehören! Ich werde ihm schreiben! Er wird Euch anhören!”
„Madame, ich will nicht, dass Ihr Euch meinetwegen in Gefahr begebt!”
Doch sie war schon auf dem Weg, ihr Schreibbesteck und Pergament zu holen.
Als Arnaud von den Geschehnissen erfuhr, war er entsetzt.
„Du hast ihr gesagt, wer wir sind?”
„Ich hatte keine andere Wahl. Andernfalls wäre sie erst recht misstrauisch geworden. Nach Floyrans Andeutungen konnte ich nichts mehr abstreiten! Und wer weiß, was sie dann unternommen hätte.”
„Und wer weiß, was sie jetzt tut? Dieser Brief, den sie dir gesiegelt hat, könnte eine Falle sein und wir laufen in Tours in die Arme der Inquisition.”
„Ich vertraue Gräfin Ghislaine.“
„Du... vertraust ihr?“
Arnauds seltsamer Tonfall bei diesen Worten entging Jocelin. Er hatte schon weiter gesprochen: „Wir gehen so vor, wie ich es gestern mit den Brüdern besprochen habe, mit dem Unterschied, dass wir nicht mehr nach La Blanche zurückkehren. Ich bringe Euch nach Fontainebleau und Ihr brecht sofort mit Louis und Ranulf nach Tours auf. Ich reite nach Corbeil und sehe, ob ich an Meister Jacques herankomme. - Das Geld, was Ghislaine mir gegeben hat, wird mir hoffentlich dabei helfen! - Ich werde am Sonntag bei euch in St. Madeleine in Tours sein, so Gott will.”
„Wir sollten vorsichtig sein. Floyran könnte ein paar Männer anheuern, um uns abzufangen.”
„Ja.” Jocelin schnallte seinen Schwertgurt um. „Dann wird er nicht mehr davonkommen!”
„Jocelin", Arnaud legte seinem Ordensbruder die Hand auf den Arm. „Keinen Hass! Hass ist eine Teufelssaat, und der Anfang des Verderbens!”
„Ich weiß.“ Das waren diese Worte des verehrungswürdigen Bernhard von Clairvaux. Die Essenz ihres Glaubens, ihres Ordens. Zu kämpfen und sterben, auch zu töten, aber nicht aus Hass, sondern aus Liebe: für jene, die es zu beschützen galt.
Worte! „Und die Qualen, den Tod, den Floyran verschuldet hat?!”
„Dennoch, Jocelin. Wir dürfen nicht hassen. Wir müssen beten für unsere Verfolger, so wie unser Herr es uns gelehrt hat. Wer das Schwert aus Hass führt, ist verloren!”
Jocelin
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