Die Traenen des Mangrovenbaums
hinunter. Glücklicherweise war Simeon viel zu beschäftigt mit seinem neuen Spielzeug, als dass er sie nach der plötzlichen Unterbrechung ihrer Rede gefragt hätte.
»Hier habe ich die Spuren gefunden.« Dongdo legte die Fingerspitze auf den Kopf eines der beiden mythischen Ungeheuer, deren monströse Schädel halb in Moos und Ranken versunken waren. »Seht!« Er zerrte einen Vorhang feister Blätter beiseite. Von der Felswand dahinter war die dicke Lehmschicht, die viele Regenzeiten über die Skulpturen geschwemmt hatten, bis auf einen dünnen Rest abgewaschen, ein deutliches Zeichen, dass die Stelle vor ein oder zwei Jahren gereinigt worden war und sich erst seither wieder Lehm darauf abgelagert hatte. Wo Dongdo daran gekratzt hatte, zeigte sich deutlich ein fingerbreiter Spalt.
Nun gab es viele solcher Spalten in dem vulkanischen Gestein, aber Raharjo hatte seinen Diener ganz richtig eingeschätzt. Dongdo witterte die Spuren, die eine fremde Hand hinterlassen hatte, selbst wenn sie dem Auge unsichtbar waren. Er sah aufmerksam zu, wie der Schwarze die Hand in den Spalt zwängte, einen leichten Ruck tat und einen faustgroßen Stein herauszog. Dann schob er den ganzen Arm in die Lücke und pochte im Inneren an etwas Hartes. Der Klang war hohl.
»Da ist eine Tür, Herr. Und seht hier! Der Engländer hat den Zugang zu dieser Tür wieder mit den Steinen verschlossen und Lehm darüber geschmiert. Soll ich sie öffnen?«
Raharjo nickte. Seine schwarzen Augen glänzten. »Und die Tür selbst? Ist sie verschlossen?«
»Er hat das Schloss gesprengt und konnte sie dann nicht mehr verschließen. Er hat sich darauf verlassen, dass niemand sie findet.« Dongdo entfernte einen Stein nach dem anderen, bis ein mannsbreiter Zugang entstanden war. Er zwängte sich hindurch, und Raharjo hörte ein rostiges Knirschen und Krachen, dann das jähe Aufspringen der Tür, die im Inneren an einen Felsen stieß. Die Stimme des Sklaven klang dumpf aus der Höhle. »Kommt herein, Herr, es ist Platz genug für uns beide.«
Raharjo glitt durch den Spalt und ließ den Vorhang der üppigen Ranken wieder darüberfallen. Es war zwar sehr unwahrscheinlich, dass irgendjemand sich in der Dämmerung in die verpestete Plantage wagte, aber er ging gerne auf Nummer sicher. Erst als er die Tür halb hinter sich zugeschoben hatte, zündete er die Laterne an.
Ein erstickter Aufschrei entrang sich seiner Kehle – ein beinahe orgiastisches Jauchzen.
Dongdo rieb sich die Hände und hechelte vor Freude wie ein Hund, der seinem Herrn einen Gefallen getan hat. »Schön! Schön!«, keuchte er. »Wie viel Geld werden wir dafür bekommen!«
Raharjo trat vor und hob die Laterne. Ihr gelbes Licht fiel auf einen übermannshohen Stapel eiserner und hölzerner Kisten. Die Behälter waren in der Feuchtigkeit der Höhle verrostet und verrottet, sodass der Inhalt herausgefallen war: eine Kaskade von Gold- und Silberstücken, mit Juwelen besetzte Waffen, Halsschmuck und Armreifen, Vasen, Becher, bemalte und vergoldete Teller. Obwohl die Kostbarkeiten dick mit Schlamm und Sinter überkrustet waren, konnte kein Zweifel bestehen, dass hier ein Vermögen verborgen lag.
»Mein guter Dongdo, mein treuer Diener! Was hast du für mich getan!« Raharjo wusste sich kaum zu lassen vor Entzücken. »Was hast du für uns getan! Mein Großvater wird mir genug Geld dafür geben, dass wir eine Schiffsladung Waffen kaufen können. Viele, viele Weiße werden sterben …«
Der Schwarze gluckste heiser vor Freude.
Raharjo warf noch einen Blick auf die unglaubliche Menge angesammelter Kostbarkeiten, dann wich sein hemmungsloses Entzücken kühler Überlegung. Die Schätze mussten weg, so bald wie möglich. Noch hielt das Gespenst des Typhus Wache über der verlassenen Plantage, aber jeden Tag konnten die Vanderheydens verlangen, dass die Quarantäne aufgehoben wurde, und dann würde es hier von Menschen nur so wimmeln, von Handwerkern, Gärtnern, Dienerschaft … Sie mussten sich beeilen.
Die Götter waren Herrn Raharjos Plänen hold, wie er gleich darauf feststellte. Auf dem Rückweg begegnete er nämlich seinem Freund Zeebrugge, der ihm voll Aufregung den neuesten Klatsch erzählte: Um ein Haar wäre das junge Ehepaar Vanderheyden einem Giftanschlag zum Opfer gefallen, hinter dem zweifellos die Rangda steckte, und die Polizei hatte die Frechheit gehabt, den Verdacht auf ihn zu lenken!
»Sie haben wieder mit dem Geschwätz mit der Goldmine angefangen«, sagte er. »Und haben
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