Die Träume der Libussa (German Edition)
fürchtete sich vor der Erkenntnis, konnte sich
aber nicht dagegen wehren. Einzelne Erinnerungen fügten sich zu einem
abscheulichen Ganzen zusammen. Der Kroatenfürst war über sie hergefallen, um
Lidomir und so auch die ihm verhasste Fürstin Libussa anzugreifen. Nur die Lust
auf Rache hatte ihn zu ihr getrieben. In Radegunds Magen krampfte sich alles
zusammen. Was für eine verdorbene, abgrundtief schlechte Person musste sie
sein, dass sie an diesem widerwärtigen Spiel Gefallen gefunden hatte! Sie
vergrub ihr Gesicht im Gras und sehnte sich nach der kalten, einsamen Zelle, wo
die Äbtissin ungehorsame Nonnen einsperrte. Dorthin gehörte sie bis ans Ende
ihrer Tage. Ihre Finger krallten sich in die Erde. Als sie Schritte hörte,
blieb sie einfach liegen.
„Radegund, beim Licht der
Mokosch, was ist mir dir geschehen?“ Vlastas Stimme weckte sie aus ihrer
Erstarrung. Warum musste dieses Mannweib immer im ungünstigsten Moment
auftauchen?
„Radegund, so
sieh mich doch an!“ Die kräftigen Hände legten sich sanft auf ihre Schultern.
Radegund schrie
empört auf. „Lass mich in Frieden, bitte! Ich möchte allein sein.“
„Dein Kleid ist
zerrissen. Du bist völlig verstört.“ Sie wurde herumgedreht und hochgezogen.
Wie stark Vlasta war! Fast wie ein Mann. Fast wie ...
Radegund wandte
ihr Gesicht ab, denn sie spürte ein Würgen. Sie musste sich übergeben,
beschmutzte die Erde, auf der sie lag, und auch ihr bestes Gewand. Warum konnte
sie nicht einfach in Grund und Boden versinken?
„Wer war es?
Slavonik? Einige Leute haben erzählt, sie hätten ihn hier herumschleichen
sehen.“ Vlastas Stimme klang mitfühlend. Radegund sank in ihre Arme und schämte
sich, so schwach zu sein.
„Wir werden
Slavonik anklagen. Libussa und Krok müssen sofort erfahren, was geschehen ist.
Diesmal kommt er nicht so milde davon. Jetzt bringe ich dich erst einmal zu
Kazi.“
Radegund
befreite sich zappelnd aus Vlastas Armen. „Nicht zu Kazi! Es ist ihre Schuld.
Sie ... sie riet mir, an dem Fest teilzunehmen. Wegen Slavonik. Das sind doch
eure heidnischen Sitten.“
Vlasta
schüttelte den Kopf. „Das sind nicht unsere Sitten. Niemand darf Gewalt
anwenden. So hat Kazi es nicht gemeint. Sie wird es dir selbst erklären, das
kann sie besser als ich. Lass uns jetzt zu ihr gehen.“
„Nein!“, hörte
Radegund sich empört aufschreien. Vlasta glaubte, ihr wäre Gewalt angetan
worden. Auch Scharka und Libussa würden diese Geschichte hinnehmen. Aber
niemals Kazi mit ihrem Blick für die dunklen Seiten der menschlichen Seele. Sie
richtete sich auf. Allmählich ließ ihre Verwirrung nach. „Bitte, Vlasta,
erzähle niemandem, wie du mich hier gefunden hast. Ich will es nicht, verstehst
du?“
„Aber Slavonik
muss bestraft werden", widersprach Vlasta mit Nachdruck.
„Bestraft
wofür? Eure heidnischen Bräuche sind an allem schuld, sonst wäre es nicht
geschehen!“ Radegund sprang auf und lief in den Schutz der vertrauten Festung.
6
Es gelang ihr, ruhig in die
Kammer zu schleichen. Unterwegs hatte sie bei einer der Hütten eine zum
Trocknen aufgehängte Tunika gefunden, die sie überzog, um die Risse und den
Schmutz an ihrem Kleid zu verbergen. Glücklicherweise waren kaum Menschen zu
sehen, denn fast alle Bewohner Prahas feierten unten am Ufer. Radegund hoffte,
Lidomir schlafend vorzufinden. Sie fürchtete den Augenblick, da sie ihm in die
Augen sehen musste.
„Du warst lange
fort", wurde sie von der vertrauten Stimme begrüßt, sobald die Tür sich
hinter ihr geschlossen hatte. Eine der Fackeln brannte noch. Lidomir las in
einem Buch, das Vater Anselm ihm mitgegeben haben musste. Langsam legte er es
zur Seite.
„Wie hat es dir
gefallen? Du siehst ziemlich zerzaust aus.“
Erschrocken
strich sie über ihren Kopf. Die Haarknoten hatten sich in Strähnen aufgelöst,
die wirr hinabgingen. Sie verschränkte die Arme, um sich gegen den
bevorstehenden Streit zu wappnen.
„Ich bin
weggelaufen. Es war schrecklich. Ich stolperte im Dunkeln und fiel in die
Büsche.“
Sie staunte
über den gefassten Klang ihrer Stimme und konnte sich nicht vorstellen, dass
Lidomir ihr diese Geschichte glauben würde. Trotzdem fühlte sie eine völlige
Ruhe, denn es schien aussichtslos, gegen das Unausweichliche anzukämpfen.
„Der Tanz
gefiel dir nicht?“, fragte Lidomir nur. Seine Worte waren frei von Hohn und
Misstrauen. „Ich habe nachgedacht, als du weg warst. Mein Benehmen war dumm. Es
ist nicht gut, wenn wir uns von der
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