Die Träume der Libussa (German Edition)
Ludmillas
Verschwinden hatte Tyrs Pläne durcheinander gebracht. Würden die Mähren ihn
noch unterstützen, wenn er keinen rechtmäßigen Anspruch auf Zabrusany vorweisen
konnte? Nun schickte er Olgas Söhne zu ihr, um eine Anerkennung als Fürst der
Lemuzi zu erbitten. Das war sein Friedensangebot, denn in diesem Fall gäbe es
keinen Anlass zum Kampf. Doch sie konnte es niemals annehmen. Dadurch würde sie
die Sitten ihres Volkes verraten.
Libussa ballte
ihre Hände zu Fäusten und ging aus dem Raum. Die Unsicherheit, ob sie das
Richtige tat, folgte ihr wie der eigene Schatten, doch sie hatte keine Zeit für
endloses Grübeln. Wenn sie nun versagte, dann war ihre Wahl zur Fürstin und
Hohen Priesterin tatsächlich ein Irrtum gewesen.
Sogleich
schickte sie Boten los und in den nächsten Tagen trafen die ersten Vertreter
der fürstlichen Clans ein. Zum ersten Mal war Libussa froh über den Anblick
Slavoniks von den Kroaten mit seiner stattlichen Kriegerschar. Jene
Siegesgewissheit, die er ausstrahlte, schien auf einmal beruhigend. Radka von
den Lukanern kam mit ihrem Bruder Lecho und seinen schwer bewaffneten Männern.
Der Fürst der Zlicany, die Leitmeritzer und auch die anderen Stämme, alle
hatten Unterstützung gesandt. Als Libussa sich ihrer Stellung gemäß am Kopfende
der Tafel niederließ, meinte sie im ersten Moment, vor den Versammelten
vollkommen fehl am Platz zu sein, doch die Dringlichkeit der Lage erlaubte
keine solchen Bedenken. Es war wichtig, dass sie ihr Amt mit
Selbstverständlichkeit ausübte, damit ihr Volk sich nicht verloren fühlte. Sie
hob den Bronzestab der Fürstin, um das Gespräch zu beginnen. Neklan trat auf
ihre Weisung hin vor die Gäste und wiederholte seinen Bericht über Tyrs
Machtergreifung. Noch bevor sie selbst etwas sagen konnte, riefen die Stimmen
schon wild durcheinander. Slavonik riet zum schnellen Angriff, während Lecho
vorschlug, erst einmal einen klaren Plan auszuarbeiten.
„Vielleicht
müssen wir Zabrusany belagern. Das könnte dauern. Wir brauchen Vorräte, um den
Winter zu überstehen.“
„Es gibt genug
Bauerndörfer im Umland“, meinte Slavonik mit einer abfälligen Handbewegung.
„Dort können wir uns das Nötige holen, um unsere Mägen zu füllen.“
Libussa
wünschte sich, er hätte geschwiegen. Warum musste er sie jetzt daran erinnern,
dass bei jedem Krieg die Bauern am meisten litten?
„Vielleicht
helfen uns auch die Germanen“, kam es von Radka, die keine Schwierigkeiten
hatte, sich unter den Männern Gehör zu verschaffen.
„Die Krieger
der Germanen sind schon lange fort gezogen. Nur noch ein paar Bauern leben
hier.“
„Auch Bauern
können Sicheln schwingen, Slavonik. Pass gut auf, dass sie dir damit nicht eines
Tages deinen eingebildeten Schädel spalten.“
Grölendes
Lachen ertönte im Saal. Radka verstand mit Kriegern zu reden.
Libussa blickte
sehnsüchtig auf Kroks leeren Platz an ihrer Seite. Ihr fehlte die Erfahrung im
Umgang mit raubeinigen Kriegern. Trotzdem musste sie sich jetzt irgendwie Gehör
verschaffen.
„Ich
finde, wir sollten die Germanen benachrichtigen“, begann sie so entschieden wie
möglich. „Vielleicht auch die Kelten in den Wäldern. Sie sind gute
Bogenschützen. Wir müssen ihnen nur klar machen, dass ein Mann wie Tyr für alle
eine Gefahr bedeutet.“ Sie schämte sich für den zaghaften Klang ihrer eigenen
Stimme. Hatte überhaupt jemand gehört, was sie gesagt hatte? Das Murmeln im
Saal war jedenfalls nicht verstummt, während sie sprach.
„Kennst du nicht
diese keltische Priesterin, Libussa?“, kam es dennoch von Radka. „Wenn du ihr
die Lage schilderst, kann sie sicher ihre eigenen Leute in unserem Sinne
beeinflussen.“
Libussa
versprach, schon am nächsten Morgen zu der Priesterin zu gehen. Aller Groll, den
sie gegen die alte Vertraute hegte, war verschwunden. Die Aussicht auf den
Besuch verschaffte ihr ein Gefühl von Erleichterung inmitten all des Geschreis
dieser Horden kriegerischer Männer. Hilfesuchend blickte sie zu Thetka, die
eine solche Situation sicher besser gemeistert hätte. Doch immer noch trennte
eine Mauer eisigen Schweigens sie von der stolzen, enttäuschten Schwester.
Erst spät in der Nacht wurde die
Versammlung aufgelöst und die Gäste verteilten sich in den Räumlichkeiten von
Chrasten. Man hatte beschlossen, noch einige Tage zu warten, ob sich weitere
Verbündete finden würden, und in der Zwischenzeit an jener Strategie zu
arbeiten, die Lecho bei Angriffen besonders
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