Die Träume der Libussa (German Edition)
Herde aus Häusern
zusammengetrieben. Wie ein Vogel war sie darüber hinweg geflogen und hatte
inmitten all der Bauten den großen Fluss gesehen, der eine scharfe Biegung
machte. Ein Hügel war ebenfalls dabei gewesen. Und rundherum Wald.
Verwirrt strich
sie sich Haarsträhnen aus dem Gesicht und stand auf, um einen Schluck Wasser zu
trinken. Premysl schlief noch. In ihre Decke gewickelt legte Libussa ihre Hand
auf seine Schulter und rüttelte ihn sanft. Sie wollte reden.
„Ich hatte
einen seltsamen Traum. Ich habe viele Steinbauten gesehen“, murmelte sie.
Müde rieb er
sich die Augen. „Steinbauten? Das ist ungewöhnlich. Aber ich habe auch oft
merkwürdige Träume. Einige davon sind ganz klar. Ich träumte zum Beispiel
davon, Tyr zu töten, als ich erfuhr, was mit meiner Mutter und Schwester
geschehen war.“
Sie nickte und
strich zaghaft über seine Wange. Er hatte noch nie zuvor mit ihr über die
Ermordung seiner Familie gesprochen. All das schienen Ereignisse, die er
vergessen wollte.
„Vermutlich war
es dein heimlicher Wunsch, dich an Tyr zu rächen“, meinte sie. „Aber das mit
diesen Steinbauten ist etwas anderes. Ich hatte diesen Traum schon öfter,
eigentlich seit meiner Kindheit. Ich erzählte der keltischen Priesterin davon,
aber sie konnte ihn mir nicht erklären. Manchmal verschwindet er für Wochen
oder gar Monate, wenn ich mit anderen Dingen beschäftigt bin. Aber er kehrt
immer wieder. Das muss doch einen Grund haben.“
Premysl
überlegte eine Weile. „Ich glaube, du träumst von einer Stadt“, meinte er dann.
„Hast du jemals eine gesehen?“
Sie schüttelte
den Kopf.
„Die Händler,
mit denen ich manchmal redete, erzählten mir davon“, sagte er. „Dort, wo früher
die Römer waren, gibt es Städte. Sie sind wie Dörfer, nur viel größer. Häuser
stehen Wand an Wand, dazwischen schlängeln sich Pfade. Und in einer Stadt leben
sehr, sehr viele Menschen.“
Libussa fühlte
sich noch verwirrter. „Krok hat ähnliche Dinge erzählt. Aber wenn ich noch
niemals eine Stadt gesehen habe, warum soll ich dann von ihr träumen?“
„Vielleicht
sehnst du dich heimlich danach, in die weite Welt aufzubrechen, so wie
Ludmilla.“
Sie verneinte
mit Entschiedenheit. „Ich kenne meine Pflichten. Sie sind hier. Männer reisen,
doch eine Frau steht dem Clan vor und kümmert sich um das Wohl all derer, die
dazugehören. Außerdem bin ich Fürstin und Hohe Priesterin und …“
Premysl
unterbrach sie lächelnd. „Wie überzeugt du von all dem bist! Aber vielleicht
wünschst du dir gerade deshalb heimlich einen Ausflug in die Fremde, um diesen
vielen Pflichten für kurze Zeit entkommen zu können.“
Sie fühlte
Ärger in sich aufsteigen. Er konnte so dickköpfig sein! „Wenn ich sage, ich
sehne mich nicht danach, dann meine ich es auch. Außerdem sieht die Natur um
diese Häuser herum nicht fremd aus. Der Fluss in meinem Traum, ich glaube, das
ist die Vltava. Und diese Biegung, ich kenne die Stelle. Ich bin manchmal daran
vorbeigeritten. Sie ist nicht weit von hier. Man kann sogar den Hügel sehen,
wenn man auf einen der Wachtürme steigt.“
Er zog sie
versöhnlich in seine Arme. „Nun gut, dann willst du eben nicht fortgehen. Mir
würde es auch nicht gefallen, wenn du es tätest. Laufen denn auch Menschen in
dieser Stadt herum? Vielleicht können wir daraus schließen, welche Bedeutung
dein Traum hat.“
„Ja“, gab sie
zögernd zu, „da sind Menschen. Sie tragen merkwürdige Kleidung, die einengend
und unbequem wirkt. Jedes Mal sind sie ein bisschen anders. Einmal sah ich
Frauen, deren Haar so weiß war wie Erics. Aber sie schienen noch jung. Auf
ihren Köpfen wuchsen riesige Frisuren, in denen Gegenstände steckten. Ihre
Röcke waren breit wie Zelte. Sie gingen gemeinsam in ein riesengroßes
Steingebäude. Dann wieder liefen Männer ganz in Schwarz herum. Sie hatten sogar
schwarze Türme den Köpfen. Nur die Pferde sehen immer gleich aus. Sie ziehen
Karren, doch diese haben meistens ein Dach.“
Sie verschwieg
bewusst jene Karren, die sich ohne Pferde bewegt hatten. Premysl würde den
Traum sonst endgültig als Unsinn abtun. „Auch die Größe der Stadt ist in jedem
Traum anders. Sie wächst und schrumpft, so wie die Kleidung der Menschen sich
ändert. Manchmal frage ich mich, ob sie mir nicht zu verschiedenen Zeiten
erscheint.“
Premysl zuckte
mit den Schultern. „Wer kann das schon sagen? Ich bin mir jedenfalls sicher,
dass Städte Menschen nicht gut tun. Diese Enge, das
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