Die Träume der Libussa (German Edition)
sofort erschlagen.“
Libussa
seufzte. Es schien ihr plötzlich einfacher, gegen äußere Feinde wie Tyr
vorzugehen, als die eigenen Leute zu lenken. „Wer weiß, was den Jungen bei den
Awaren wirklich erwartet? Am Ende machen sie auch einen Sklaven aus ihm.“
Ein Gedanke
schlich sich in ihren Kopf und hellte ihre Stimmung auf. Sie musterte den
Jungen aufmerksam: ein gesundes, kräftiges Kind, trotz aller Wunden, die ihm
zugefügt worden waren. Je länger sie sein braunes Gesicht mit den schrägen
Augen betrachtete, desto vertrauter schien es ihr. Sie konnte nichts Böses
darin erkennen.
„Ich werde es
machen wie Kazi“, erklärte sie. „Morgen nehme ich diesen Jungen in unseren Clan
auf. Am Schrein der Göttin werde ich eine Zeremonie vollziehen in Gegenwart
aller Anwohner. Sie müssen meine Entscheidung hinnehmen. Dann ist dieses Kind
in Sicherheit.“
Sie fühlte, wie
Premysls Arme sie umschlossen, und schmiegte ihren Kopf an seinen Hals.
„Tue es, wenn
du dem Kind helfen willst“, flüsterte er. „Aber an unserer Lage änderst du
dadurch nichts. Du sollst vor allem eine Tochter gebären, deine Nachfolgerin.“
Verwirrt zog
sie sich zurück. Konnte er ihre Gedanken lesen?
„Ein Junge ist
ebenso wichtig. Wir brauchen einen zukünftigen Stammesführer. Es kommt immer
mehr auf die Männer an, auch bei uns. Wir gewinnen Zeit, sobald ich einen Sohn
vorweisen kann. Ich bin mir ganz sicher, dass ich eines Tages auch eine Tochter
haben werde.“
Premysls Hände
legten sich auf ihre Schultern und glitten an ihren Armen hinab zu den
Fingerspitzen. „Ich weiß, worüber Krok mit dir sicher schon gesprochen hat,
Libussa. Du sollst wissen, dass ich es verstehen würde. Deine Mutter blieb
nicht bei einem einzigen Mann und ihre Vorgängerinnen taten es sicher auch
nicht. Du hast meinetwegen genug Regeln gebrochen. Vielleicht kann ein anderer
dir zu einem Kind verhelfen.“
Sie hatte das
Gefühl, von einem Messer durchbohrt zu werden. Krok hatte noch nicht mit ihr
gesprochen, aber sie ahnte, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Als
Fürstin der Tschechen musste sie Nachkommen gebären. „Kazi sagte, es könnte
auch an mir liegen“, flüsterte sie.
„Das ist
möglich. Aber nur durch einen anderen Mann kannst du es herausfinden.“
Libussa stieß
ihn wütend von sich. „Ist es das, was du willst? Dass wir so sind wie Thetka
und Eric? Ich weiß, die Mägde machen dir schon lange schöne Augen. Ein
richtiger Held der einfachen Leute bist du, weil du für sie eine Siedlung
gebaut hast, wo sie gut leben können. Wenn du genug hast von mir, dann sage es
ruhig. Nimm eine Bäuerin und ziehe in ihr Dorf! Von so einem Leben hast du doch
immer geträumt.“
Der verletzte
Ausdruck in seinen Augen war wie eine Ohrfeige. Sie vergrub ihr Gesicht in den
Händen. „Es tut mir Leid. Ich war ungerecht.“
„Vielleicht
wünschst du dir heimlich, dass ich zu einer Bäuerin ziehe. Dann wärst du von
vielen Sorgen befreit“, meinte Premysl eisig.
Libussa
schüttelte den Kopf. Eine Mauer hatte sich zwischen ihnen aufgebaut. „Ich
möchte keinen anderen Mann. Du bist der erste gewesen und danach kam niemand
mehr, der mir besser gefiel. Deshalb sollst du der einzige bleiben, ganz
gleich, was meine Mutter oder ihre Vorgängerinnen taten. Lass uns diesen Jungen
als unser Kind annehmen. Dadurch gewinnen wir Zeit. Auf die eine oder andere
Art kommen wir auch zu einer Tochter.“
Er strich
zögernd über ihre Wange. Libussa nahm seine Hand und führte ihn in ihre Kammer.
Sie verteilte die Kräuter, die eine Magd ihr gegeben hatte, auf ihrer
Bettstatt. Kazi glaubte nicht an solche Hilfsmittel, doch Libussa war
inzwischen bereit, alles zu versuchen.
„Heute Nacht“, dachte
sie, als sie die Wärme des vertrauten männlichen Körpers spürte. „Ich habe ein
gutes Gefühl. Heute Nacht könnte es gelingen.“
Nachdem Premysl eingeschlafen
war, betrachtete Libussa die hölzerne Wand um sie herum. Verglichen mit den
Beschreibungen Muhammad Ibn Saids war es ein einfaches Gebäude, aber waren die
Menschen in prächtigen Palästen wirklich glücklicher? Sie wusste es nicht. Doch
hätte sie gern die Kunst des Schreibens von dem Händler gelernt. Worte
festhalten für die Ewigkeit. Eine verwirrende Vorstellung. Denn nur diejenigen,
die schrieben, konnten sich der Nachwelt mitteilen. Premysl und sie selbst
würden in Vergessenheit geraten. Und wenn jemand irgendwann über sie schrieb,
dann wäre es seine Sichtweise der Dinge,
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