Die träumende Welt 02 - Das Schattenreich
und blickte auf die armseligen Bündel verfilzten Fels hinab. Sie haben keine Wärme mehr.
Diese Bemerkung löste ein entsetztes Schweigen aus, und zum ersten Mal kam sich Gemma wie ein Eindringling vor. Sie stand auf und ging ein Stück fort, überließ die Meyrkats ihrem Schmerz und nahm ihren eigenen Kummer mit.
Ein Stück weiter den Graben entlang entdeckte sie die Überreste ihres Zeltes. Es war von den Nadeln der Dornenbüsche zerfetzt worden. Sie fand ein paar Stücke des geräucherten Schlangenfleisches wieder und versuchte, sie so gut wie möglich zu säubern. Wenn die Sonne herauskam und sie sie trocknen konnte, wären sie vielleicht essbar. Ihr restlicher Proviant, die Holzkohlenreste und die grüne Glasscherbe waren verschwunden. Gemma überdachte ihre Überlebenschance: Sie hatte weder Schutz noch Feuer, sehr wenig zu essen, und sie befand sich noch immer mehrere Tagesreisen vom Wüstenrand entfernt.
Vielleicht ist dieser Ort doch noch mein Tod.
Als ihr dieser unglückliche Gedanke durch den Kopf ging, hörte sie, wie sich die Stimmen der Meyrkats zu einem Trauergesang erhoben.
6 . KAPITEL
Als der Gesang der Meyrkats endete, brach die Sonne durch die Wolken, doch an Gemmas Stimmung änderte das wenig - der Sturm hatte sein Unheil bereits angerichtet. Sie legte die geretteten Fleischstreifen zum Trocknen auf die Äste eines Dornenbusches und überlegte, was als nächstes zu tun war. Der Rückschlag war so plötzlich und vernichtend, dass sie mit den Tränen kämpfte. Ein vernünftiger Gedanke war nicht möglich.
Ox sprang zu ihr herüber.
Ed fragt nach dir, meinte er. Das Klar-Rauschen hat ihn gebissen.
Gemma übersetzte das in >das Wasser hat ihn verletzte Dann eilte sie, mit dem Anführer an ihrer Seite, zum Clan zurück. Sie war überrascht, dass sie keinen Kummer, keine Trauer verspürten. Die Leichen der beiden Jungtiere waren nirgends zu sehen.
Ihr Gesang ist vorüber, stellte Ox nüchtern fest, als er ihre unausgesprochene Frage bemerkte. Der Clan erneuert sich.
Gemma konnte diese pragmatische Haltung dem Tod gegenüber zwar nicht teilen, doch sie verstand und bewunderte sie bei den Meyrkats. Die Toten waren fort, und was zählte, waren die Lebenden. Ed lag mitten in der Gruppe, hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Schaumspuren bedeckten Mund und Nüstern. Gemma sah ihn an, und Eds Stimme erschallte in ihrem Kopf. Sie hatte ihn immer für einen der selbstsichersten der Meyrkats gehalten, voller Selbstvertrauen - doch jetzt klang er schwach und unsicher.
Ist die Erd-Dunkelheit vorbei? Ich kann sie kommen hören. Ist Gemma hier?
Ich bin hier, erwiderte sie. Du wirst bald wieder gesund sein.
Auf ihre Worte hin entspannte sich das Tier ein wenig, doch sein Atem ging noch immer rasselnd. Gemma kniete verlegen und ängstlich nieder und legte ihm sanft die Hand auf die Brust. Sie schloss die Augen und zwang ihr Bewusstsein, sich auszudehnen und den kleinen Körper zu erforschen. Zuerst entdeckte sie nichts als Schmerz und Erschöpfung, dann wurden ihre inneren Sinne klarer, und die Ranken des Bewusstseins folgten den Wegen des Blutes, der Knochen und der Sehnen ihres eigenartigen Patienten. Die Linien waren nicht so klar wie bei den Menschenkindern, doch sie war dankbar für die Erkenntnisse, die sie ihr liefer ten. Eds Schwierigkeiten waren offenkundig. Sein aufgequollener Magen war mit Wasser gefüllt, Sand verhinderte das Abfließen. Auch seine Lungen waren zu zwei Dritteln mit Wasser gefüllt, und sein Herz geriet unter der enormen Belastung ins Stocken. Er lag im Sterben.
Tu etwas! befahl Gemma sich selbst. Und zwar sofort! Sie hatte schließlich nichts zu verlieren.
Also drückte sie zu, spannte die erschlafften Muskeln an, konzentrierte ihre Bemühungen und ließ wieder locker, während sie gleichzeitig die Hand auf seinen Brustkorb presste.
Nach ein paar Augenblicken gab Ed ein seltsames Gurgeln von sich, und Wasser schoss in sämtliche Richtungen davon - aus Mund und Nase und zwischen seinen Beinen. Gemma bekam einen Tropfenschauer ab, sorgte sich aber ausschließlich um Ed. Sie befürchtete, ihn durch das Abfließenlassen des Wassers auf andere Weise verletzt zu haben. In quälender Spannung verfolgte sie, wie sein Atem aussetzte. Dann schüttelte er sich und atmete tief durch, und sie verspürte eine Woge der Erleichterung. Seine Lider zuckten, und er öffnete die Augen.
Ich habe Hunger, meinte er und schlief sofort danach ein.
Gemma musste lachen - zur großen
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