Die Traumfängerin - Roberts, N: Traumfängerin
das für deine Dokumentation gebrauchen?“
Die kühle, scheinbar ungerührte Art, mit der sie ihm jedes Detail erzählte, ließ ihn erschauern. Wer war diese Frau, die hier vor ihm saß und die er noch vor kurzer Zeit voller Verlangen in den Ar menge halten hat te? „Was dirheute geschehen ist, hat nichts, aber auch gar nichts mit meinem Film zu tun. Mich interessiert viel mehr, wie sich dieses Erlebnis auf dich auswirkt.“
„Ich kann damit umgehen.“ Abrupt schob sie den Teller beiseite, sodass die Suppe über den Rand schwappte. „Es war nicht das erste Mal. Vermutlich wäre es nicht geschehen, wenn ich nicht so aufgewühlt gewesen wäre, als ich den Raum betrat. Ich hatte mich nicht unter Kontrolle.“
„Du kannst es verhindern?“
„Normalerweise schon.“
„Warum tust du das?“
„Glaubst du im Ernst, diese Fähigkeit sei ein Geschenk?“, fragte sie heftig, während sie aufstand. „Vielleicht für jemanden wie Clarissa. Sie ist so selbstlos und gut und zufrieden.“
„Und du?“
„Ich verfluche den Tag, an dem ich es zum ersten Mal erlebt habe.“ Unfähig, still zu stehen, durchschritt sie den Raum. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, wenn die Leute dich anstarren und hinter deinem Rücken flüstern. Du wirst zum Außenseiter, und ich …“ Sie brach ab und massierte ihre pochenden Schläfen. Als sie fortfuhr, war ihre Stimme ruhig und gefasst. „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als normal zu sein. Als Kind hatte ich Träume, Vorahnungen.“ Sie presste die Hände vor ihr Gesicht. „Sie waren so wirklichkeitsnah, jedes Detail stimmte. Doch ich war noch klein und glaubte, jeder habe solche Träume. Ahnungslos habe ich meinen Freundinnen davon erzählt. ‚Oh, deine Katze bekommt Junge. Darf ich das weiße Kätzchen haben, wenn sie geboren sind?‘ Wochen später bekam die Katze tatsächlich Junge, darunterein weißes. Kleinigkeiten. Ich wusste, wo die Puppen waren, die sie vermissten. Kinder denken sich nichts dabei, aber die Eltern musterten mich mit unverhohlenem Misstrauen und fanden es am besten, wenn ihre Kinder sich von mir fernhielten.“
„Das tut weh“, murmelte er.
„Oh ja, und wie. Clarissa wusste, wie ich mich fühlte. Sie hat versucht, mich zu beschützen und wundervolle Dinge mit mir zu unternehmen, um mich zu trösten. Doch der Schmerz blieb. Und die Träume kamen wieder und wieder, aber ich sprach nicht mehr darüber. Dann starb mein Vater.“
Bewegungslos stand sie vor ihm, die Handballen auf die Augen gepresst, als hoffte sie, so ihre Gefühle zurückdrängen zu können. Als sie hörte, dass David seinen Stuhl zurückschob, um aufzustehen, schüttelte sie den Kopf, ohne ihn anzusehen. „Bitte nicht. Gib mir nur eine Minute.“ Sie atmete tief durch und ließ die Hände fallen. „Ich wusste, dass er tot war. Er war auf einer seiner Geschäftsreisen, und plötzlich erwachte ich mitten in der Nacht. Da spürte ich es. Sofort sprang ich aus dem Bett und lief zu Clarissa. Auch sie saß hellwach im Bett, und ich erkannte, dass sie trauerte. Verstehst du, sie trauerte um meinen Vater, von dessen Tod wir offiziell noch nichts wussten. Voller Sorge kroch ich zu ihr ins Bett und kuschelte mich an sie. Dort lagen wir, bis das Telefon klingelte.
„Du warst acht Jahre alt!“
„Ja, ich war ein kleines Mädchen von acht Jahren. Nach diesem Erlebnis habe ich meine hellseherischen Fähigkeiten immer abgeblockt. Ich habe quasi die Fühler eingezogen. Manchmal gelang es mir, monatelang – einmal so gar zwei Jah re – voll kommen normal zu le ben. Immerwenn ich wütend werde oder aufgeregt, sobald ich also die Kontrolle über mich verliere, erwischt es mich wieder.“
David dachte daran, wie kämpferisch und aufgewühlt sie in das Zimmer gestürmt war. Als sie wieder hinausgegangen war, hatte sie dagegen gewirkt, als sei alles Leben aus ihrem Körper gewichen. „Du warst meinetwegen so außer dir.“
Zum ersten Mal, seit sie begonnen hatte zu sprechen, sah sie ihn direkt an. „Scheint so.“
David fühlte sich schuldig, verwirrt, doch er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. „Dann sollte ich mich wohl entschuldigen?“, fragte er hilflos.
„Wir können es beide nicht ändern. Wir können uns nicht ändern.“
„Aurora, ich verstehe, dass du nicht täglich damit konfrontiert werden willst. Du versuchst, ein ganz normales Leben zu führen. Gut. Aber warum bemühst du dich, deine hellseherischen Fähigkeiten komplett aus deinem Leben zu verbannen,
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