Die Trinity Verschwörung
einem Lastwagen, der aussah, als wäre er seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr bewegt worden, lagen ein paar blaue Plastikplanen aufgestapelt. Gaddis hatte das Gefühl, im tiefsten Russland erwacht zu sein, einer Welt aus bröckelnden Mietskasernen aus kommunistischer Zeit; ausrangierte Güterwagen standen auf von Unkraut überwucherten Abstellgleisen, von Oberleitungen hingen Knäuel abgerissener Kabel. Alles war weniger ordentlich, weniger gepflegt. Er roch seinen eigenen Atem, und es verlangte ihn nach einem Schluck Wasser. Der Schlaf hatte ihm nicht gutgetan. Nach der kurzen Ruhe fühlte er sich müder, nicht frischer.
Eva kam zurück, bewaffnet mit einem Käsesandwich, einer Halbliterflasche Mineralwasser und einer Fahrkarte nach Budapest.
» Das ist ja eine Hin- und Rückfahrkarte«, stellte Gaddis fest, während er das Sandwich verschlang und die Flasche fast leer trank.
» Sie kommen morgen zurück«, antwortete sie lächelnd. » Eine einfache Fahrt erregt viel mehr Misstrauen. Da fällt mir ein …«
Sie stieg aus dem Wagen, öffnete den Kofferraum und kam mit einer abgewetzten Ledertasche zurück, in die sie ein paar Toilettenartikel, zwei Taschenbücher und ein T-Shirt gesteckt hatte.
» Das ist für die Reise.« Sie zog die Autotür zu. » Ein Ausländer, der ohne Reisetasche einen Zug besteigt, könnte Verdacht erregen. Suchen Sie sich einen Platz neben jungen Leuten, wenn Sie nicht gestört werden wollen. Junge Leute sind viel weniger neugierig. In einer Stunde sind Sie in Budapest. Es gibt absolut keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Es tut mir leid, dass ich nicht mit Ihnen kommen kann.«
» Ist schon gut«, sagte Gaddis.
» Geben Sie mir bitte Ihr Mobiltelefon?« Es wunderte ihn nicht, dass sie ihn darum bat. » Ich bringe es zurück nach Österreich und lege es eingeschaltet in einen Park in der Nähe meiner Wohnung. Vielleicht lassen die Leute, die hinter Ihnen her sind, sich davon ablenken und glauben, dass Sie noch in Wien sind. Aber vielleicht durchschauen sie den Trick auch. Sie sollten jedenfalls nicht länger damit herumlaufen. Haben Sie sonst noch Fragen?«
Gaddis hätte noch hundert Fragen gehabt, aber sie fielen ihm nicht ein. Wahrscheinlich war es besser so. Wozu die Dinge noch mehr komplizieren? Was sollte ihm schließlich passieren? Er musste nur in diesen Zug einsteigen und einen Mann namens Miklós treffen. Als er hochschaute, fuhr der Budapester Zug gerade in den Bahnhof ein. Evas Zeitplan ging perfekt auf. Er stieg aus dem Wagen.
» Vielen Dank«, sagte er. » Das war sehr freundlich von Ihnen. Ich vermute, wir werden uns nicht wiedersehen.«
» Wahrscheinlich nicht«, antwortete Eva. Gaddis gab ihr das Telefon und den Akku. » Alles wird gut, Doktor Gaddis, alles wird gut. Ich wünsche Ihnen viel Glück.«
46
Der Zug brummte und quietschte auf den Schienen. Gaddis stieg in einen Waggon in der Mitte des Bahnsteigs und sah, dass nur noch eine Handvoll Sitze frei waren. Er hielt nach jungen Leuten Ausschau, wie Eva ihm geraten hatte, und entdeckte einen Ungarn mit Bürstenfrisur und tätowierten Oberarmen, der an einem Tisch gegenüber einer blondierten Frau Anfang zwanzig saß, die übellaunig zum Fenster hinausstarrte. Unter dem Tisch waren ihre Beine ineinander verschlungen. Gaddis deutete mit einer Kopfbewegung auf den freien Platz neben dem Mädchen, und der Ungar signalisierte mit einem kaum wahrnehmbaren Augenaufschlag, dass niemand Anspruch darauf erhob. Gaddis dankte ihm mit einem Kopfnicken, schwang seine Tasche ins Gepäcknetz und setzte sich.
Der Zug fuhr los. Eine alte Frau sah Gaddis dabei zu, wie er sich in seinem Sitz einrichtete, aber als er ihren Blick erwiderte, schaute sie weg. Auf der anderen Seite des Gangs hörte ein junges Mädchen über Ohrhörer Musik aus einem mit rosaroten und gelben Stickern beklebten MP 3-Player. Ein Geschäftsmann mittleren Alters in einem braunen Anzug war auf dem Platz neben ihr fest eingeschlafen, sein Mund stand offen, eine kleine Speichelpfütze sammelte sich auf seinem Kinn. Keiner der Anwesenden schien darauf aus zu sein, eine Unterhaltung zu beginnen. Jeder war mit sich selbst beschäftigt.
Vor ihm auf dem Tisch stand eine offene Coca-Cola-Dose neben einer verknitterten ungarischen Tageszeitung. Gaddis hätte gerne einen Blick auf die Titelseite geworfen, auch wenn ihm klar war, dass der Wilkinson-Mord es unmöglich in die Morgenausgabe geschafft haben konnte. Ein weiblicher Fahrgast auf der anderen Seite des
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