Die Trolle
genoss das Ohr ihres Herrn, und dessen Wort war Gesetz. Aus diesem Grunde war es klug, sie nicht unnötig gegen sich aufzubringen.
»Ihr genießt den Ausblick?«, wollte die drahtige, kleinere Frau wissen. Viçinia sah zu ihr hinab und musterte das schmale Gesicht. Trotz des offenen Lächelns der Szarkin blieben die Augen kalt und hart.
»Ich genieße den Wind und die Sonne«, erwiderte sie dann und wandte sich ab, um das Gespräch zu beenden, doch Sciloi ließ sich davon nicht beirren.
»Ihr seid häufig auf den Mauern. Ich verstehe Euch.«
Verwirrt sah Viçinia die Frau an. Es war keine Frage, dass sie viele Stunden auf den Zinnen verbrachte. Die Enge der Zitadelle und ihrer Gemächer trieben sie geradezu ins Freie. Überdies traf man in den Eingeweiden der Feste unweigerlich auf die Herren der Burg. Auf den Mauern aber, die jetzt, da kaum mit einem Angriff zu rechnen war, nur wenig patrouilliert wurden, konnte Viçinia ein wenig Ruhe und Abgeschiedenheit finden.
Zudem boten die Mauern einen grandiosen Ausblick auf Teremi und den mächtigen Magy. Der Fluss, der das Land Wlachkis durchströmte, war an dieser Stelle schon im Sommer viele Dutzend Schritt breit, während er im Frühjahr zur Schneeschmelze um das Doppelte anschwoll. Zu ihren Füßen floss die Reiba durch die Stadt, bevor sie in den Magy mündete, so wie fast alle Flüsse des Landes.
Einst hatte Teremi aus zwei Dörfern zu beiden Seiten der Reiba bestanden, aber schon vor langer Zeit waren sie zusammengewachsen, und jetzt überspannten sieben breite Brücken den Fluss, sozusagen als Zeichen der Zusammengehörigkeit der beiden Stadtteile. Die Brücken waren wahre Meisterwerke, welche die Namen ihrer jeweiligen Erbauer trugen.
Hier auf den Zinnen, fernab vom Rest der Welt, konnte Viçinia für eine kurze, kostbare Zeit frei sein. Sobald sie ins Innere der Burg hinabstieg, war sie wieder eine Gefangene, eine Geisel am Hof ihrer Feinde.
Konnte es sein, dass Sciloi sie wirklich verstand, ja sogar mit ihr fühlte? Forschend sah Viçinia noch einmal in die hageren Züge, doch dann schalt sie sich innerlich einen Narren. Als Zorpads Vertraute empfand Sciloi genauso viel Verständnis für Viçinia wie diese für sie. Die listige Szarkin suchte lediglich nach einer Lücke in Viçinias Abwehr, um ihren Geist mit neuen Lügen zu vergiften. Niemals würde die Wlachakin Sciloi trauen können, und niemals würde sie dieser Person ihr Herz öffnen, so sehr sie sich auch nach jemandem sehnte, mit dem sie ihre Gedanken teilen konnte.
Der Kontakt untereinander war den Geiseln streng verboten, und sie trafen sich nur bei offiziellen Anlässen unter den stets wachsamen Augen ihrer Wächter. Manchmal gelang es ihnen zwar, Botschaften auszutauschen, aber aus Furcht vor Entdeckung waren diese Briefe zumeist kurz und unpersönlich. So war Viçinia auf sich allein gestellt. Daran gewöhnt, sich mit ihrer Schwester in allen Dingen zu beraten, war die Einsamkeit eine schmerzliche Erfahrung. Genau diese Lage wollte Sciloi wohl ausnutzen, was Viçinia in dem Augenblick erzürnte, als sie die Absicht der anderen Frau erkannte.
»Ihr versteht mich? Wo ich doch sonst so unverstanden bin?«, erwiderte sie dementsprechend bissig. Wie zur Antwort verfinsterten sich Scilois Züge, doch die kleine Frau setzte rasch wieder eine nichts sagende Miene auf und verneigte sich gekonnt.
»Verzeiht, wenn ich Euch zu nahe getreten bin. Ich wollte lediglich eine Unterhaltung beginnen, um den infernalischen Lärm zu übertönen, den Avram dort unten veranstaltet.«
Ob sie es wollte oder nicht, aber nun musste sich Viçinia ebenfalls entschuldigen: »Der Lärm ist es, der meine Stimmung verdirbt. Ich hoffe, Ihr könnt mir meine überhasteten Worte vergeben.«
Nachdem nun beide ihre ebenso formellen wie falschen Entschuldigungen vorgebracht hatten, kam Sciloi auf den Grund zu sprechen, der sie auf die Zinnen geführt hatte. »Mein Herr wünscht Eure Anwesenheit. Er wird zu Gericht sitzen.«
»Ein Gericht?«, wunderte sich Viçinia. »Wisst Ihr, warum er dabei nach mir verlangt?«
»Nach all seinen Gästen, werte Viçinia cal Sares. Ihr müsst Euch nicht allzu sehr eilen, es ist noch genug Zeit, um Euch vorzubereiten. Und nun entschuldigt mich, ich muss die Botschaft noch anderen überbringen«, erklärte die Szarkin mit einer weiteren Verbeugung und wandte sich ab. Stirnrunzelnd blickte Viçinia ihr hinterher, als sie die hölzerne Treppe hinabstieg, die in den Burghof führte. Mit einer
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