Die Tuchhändlerin: Liebesroman aus der Zeit der Weberaufstände (German Edition)
Musterbücher dabei, aber ihr Vater bestand darauf, anders als die meisten Großtextilen, nicht nur die Musterbücher, sondern auch greifbare Ware für sich sprechen zu lassen. „Was ist das denn?“ Bettine angelte nach einem Paket, das im hintersten Winkel unter dem Auslagentisch gelegen hatte.
„Mein bestes Stück ist das.“ Luisa wischte ihre Finger am Rock ab, nicht sehr schicklich, löste dann den Hanfstrick von dem Päckchen und entnahm den Jutelagen ein Tuch, das sie nur dann zur Schau stellen durfte, wenn ihr Vater weit weg war. So wie jetzt.
„Aber was soll das sein? Eine Serviette?“
„Nein, Bettine, keine Serviette. Ein Schmucktuch.“
„Na ja, schmuck sieht’s ja aus, aber wozu?“
„Zum Schönaussehen, Bettine. Zum Schönaussehen. Ich werde jetzt zum Vortrag gehen. Sobald mein Vater in Sicht ist, packst du es weg!“
„Aber wieso denn?“
„Weil ich nicht dumm sterben will.“
„Nein, wieso soll ich’s wegpacken?“
„Weil es Vater nicht sehen darf, deshalb!“
„Mmh.“ Eine nachdenkliche Magd war keine gute Magd. „Sehr hübsch sind Sie da, Fräulein Luisa, wirklich sehr hübsch. Wer hat das gewebt? – Ach du mein Gott, Fräulein Luisa, das ist das Tuch vom Meister Weber. Herrje! Wie kommen Sie zu diesem Tuch!“
„Bettine! Kein Wort darüber zu irgendwem. Die Leute sollen es sich ansehen, nicht aber der Vater, verstanden?“ Bettine schwieg, ein bisschen zu lange für Luisas Gemüt. „Schwöre bei deinem toten Vater!“
Das war dick aufgetragen, aber es funktionierte. Bettine schwor. „Aber Sie können mich hier nicht allein lassen.“
Luisa rang die Hände. Ihr Herz pochte ganz aufgeregt. „Bitte, Bettine, ich steck nur die Nase durch die Tür. Da vorn. Du kannst mich sehen. Ich bin gleich zurück. Nur ein Minütchen.“
„Frauen ist das nicht erlaubt, Fräulein.“
„Ich geh ja nicht rein. Ich tu so, als ob ich Vater suche. Bettine, bitte. Sag interessierten Kunden, ich sei da vorn.“ Und weg war sie.
„Standhalten einer schwankenden Konjunktur“ stand auf dem Vortragsplan. Sie durfte sich nicht zur Hörerschaft setzen, merkte sich aber jedes Wort, das sie von der Tür aus hören konnte. Ihr Vater würde Augen machen! Er sollte sie nicht nur als Gesellschafterin mit nach Leipzig genommen haben. Sie wollte ihn beeindrucken. Aber nach einer Weile wurde ihr klar, dass sie hier lernen würde, wie sie die Rechnungsbücher zugunsten der Expediteure, Verleger und Großindustriellen öffnen und die Kassen vor den hohlen Wangen, den tief liegenden Augen und Blasen werfenden Lippen der Weber schließen musste. So etwas wollte sie nicht lernen.
Mit jedem Atemzug, mit jeder Silbe, die aus dem schwadronierenden Mund des Redners quoll, dachte Luisa an Caspar, der in seiner Weberstube saß und Leinwand machte, solange Liebig & Co. keinen neuen Auftrag für ihn hatte. Sie dachte an Maria Weber, die mit leuchtenden Augen Fleischeintöpfe und Bratpfannen auf dem Feuer schmorte, wo früher nur Pellkartoffeln und Mehlsuppe geköchelt hatten. Sie dachte an Sophie, die so gern zur Schule ging, an Elsbeth, die im kommenden Jahr Herrmann Tkadlec heiraten wollte und jetzt noch nicht wusste, welche der Bürgerinnen ein Stück Gardinenspitze abgeben mochte, mit der sie ihr Hochzeitskleid würde verschönern können.
Und Luisa dachte an Matthias Kollmar, der sonst wo in Skandinavien war und sich damit brüstete, seine Verlobte aus der Enge des Kontors des Vaters erretten zu wollen, und keine Ahnung hatte, dass Luisa gar nicht gerettet werden wollte.
An diesem Tag verdüsterte sich Luisas Blick auf die Messe schlagartig und wollte sich nicht mehr aufhellen. Und ihr Tuch zog die Aufmerksamkeit nicht eines einzigen Messebesuchers auf sich, weil die Geschäftsherren eben kein Interesse an Schmucktüchern mit Mädchenportraits hatten, weil sie eben mit sich und der Staatspolitik zu tun hatten, weil sie eben ihre Tuchballen, ihre Garne, ihre Musterwebmaschinen, Schussspulen, Schleudervorrichtungen, Lätzezüge oder Fußtritte loswerden wollten. Das Desinteresse der Menschen war nur bis zu einem gewissen Grad auszuhalten. Luisa war in sich gekehrt, bekam Heimweh und fühlte sich allein gelassen.
Der zweite Tag verstrich.
Der dritte Tag.
Der vierte Tag.
Am fünften Tag brachte Ludwig Treuentzien von einem der Vorträge eine Überraschung mit. Und Luisa gelang es gerade noch, ihr heimliches Schmucktuch vom Warentisch zu räumen. Bisher hatte sie ihr Geheimnis hüten können.
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