Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
selbst. Letzte Bilder fielen ihm wieder ein, Eindrücke vom einst so vertrauten Nachbarn, die er im Ausklang seiner hiesigen Wohnzeit nur en passant registriert hatte: die stets geschlossenen Fensterläden an Wachs' Haus und die atonale, gespenstische Zwölftonmusik Arnold Schönbergs, die manchmal in der Nacht daraus drang. Einmal sah er ihn, wie er das Haus verließ und in eine schwarze Limousine stieg, deren Tür ihm von innen geöffnet wurde. Er ging gebückt und schleppend, als sei er krank, keine Spur mehr von dem Tausendsassa zwischen Fußballstadien-Bauten, Old timer- Rallyes rund um die Welt und »echt« schmeckenden Tomaten. Und ein anderes Mal erblickte er ihn im Garten und winkte ihm grüßend über die niedrige Mauer hinweg zu. Doch der Gegrüßte nahm keine Notiz davon und starrte nur mit aufgerissenen Augen zum Himmel, als würde daraus jeden Augenblick der Heiland entsteigen. An zwei Dinge erinnerte sich Ali allerdings glasklar. Anton Wachs hatte Ida und ihm weder sein Beileid zu Patricks Tod bekundet noch sein Bedauern über ihren Auszug. Er war am Schluß ihrer Nachbarschaft vollends ihrer Welt entrückt, obgleich sie beide wußten, daß er immer noch neben ihnen wohnte. Hinter geschlossenen Fensterläden.
Aber Wachs stand ja auch jetzt gar nicht vor seiner Tür, sondern diese lästige Punk-Ratte von der »Vierer Bande«. Ali hatte plötzlich das Gefühl, als würde er fortlaufend auf seifigem Boden ausrutschen, ohne je aufzuschlagen. Panisch, weil die Chronologie der Geschehnisse am 28. März 1991 in der Welt der zweiten Chance durcheinandergeraten war, suchte er fahrigen Blickes die sonnendurchflutete Straße nach etwas Vertrautem ab. Und wurde zu seiner Überraschung und Beruhigung schließlich doch fündig. Anton Wachs stand mit seiner Schale Tomaten unten am Fuße des Treppenaufgangs und schaute verunsichert zu ihm und dem Latino-Verschnitt auf. Nun verstand Ali. Alles hatte seine Richtigkeit, er und Ida hatten die Chronologie nur etwas verbogen. Wäre Bibo nämlich letzte Nacht nicht ihrem Mord zum Opfer gefallen, hätte ihnen der Nachbar dem Drehbuch der Vergangenheit gemäß direkt zum Einzug gratulieren können, anstatt sich kurz vorher vom besorgten Kumpan des Getöteten ausbremsen zu lassen. Wachs war einfach ein paar Sekunden zu spät gekommen. Und seine gerunzelten blonden Augenbrauen, die grauen Augen voller Irritation, bestätigten diese Annahme.
»Tach, Herr Seichtem! Sie wissen doch, wer ich bin?« sagte der nicht mehr so ganz junge Mann. Obwohl er die aufgesetzte Höflichkeit seines Bosses pflegte, strahlte seine wie eine Barriere wirkende Körperhaltung nur Argwohn aus. Ali spürte intuitiv, daß er ihn mit Bibos Verschwinden in Zusammenhang brachte, was für seine rattenhafte Intelligenz sprach. Und der aggressive Schweißgestank aus seinen Achseln schien seine grimmige Stimmung zusätzlich zum Ausdruck bringen zu wollen.
»Is' so, Herr Seichtem, gestern haben wir nach der Arbeit noch die Tränke a ufgesucht und ein bißchen Hoch- die-Tassen!-mäßig gefeiert. Is' 'n bißchen spät geworden. Is' so, als wir dann alle vier zum Laster zurückkommen, da sieht Bibo, daß auf der Pritsche noch so 'ne olle Lampe von Ihnen übriggeblieben ist. Da sagt er, ich bring das gute Stück noch schnell zu den Leuten, die werden sich freuen. Und weg is' er. Heute morgen ruft mich Lisa an, das is' seine neue Freundin, und will wissen, wo Bibo is', wär die ganze Nacht nicht heimgekommen und so. Und wir warten ja auch auf ihn, weil wir jetzt wieder Umzug hätten. Is' so, hat der Penner eigentlich die Lampe gestern noch bei Ihnen abgeliefert?«
»Nein!«, sagte Ali wie aus der Pistole geschossen. Schon im nächsten Moment wußte er mit schrecklicher Gewißheit, daß diese Antwort, vor allem daß er sie so prompt ausgesprochen hatte, der größte Fehler war, den er hatte begehen können. Denn nun würde sich Bibo in den Köpfen aller Spurensucher auf immer und ewig als »auf dem Weg zu Herrn Seichtem« einnisten. Hätte er zugegeben, daß Bibo die Lampe zurückgebracht hatte, so würden sie Ali zwar weiterhin in ihre Überlegungen einbeziehen, aber zum überwiegenden Teil darüber rätseln, was danach mit Bibo geschehen wäre. Es war keine gute Idee von Ida gewesen, ihn darauf zu konditionieren, bei entsprechender Nachfrage Bibos nächtliches Auftauchen zu leugnen.
Er bemerkte mit einem Seitenblick, daß Wachs den Wortwechsel vom Bürgersteig aus verfolgt hatte und jetzt ganz langsam die
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