Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
regelmäßigen Abständen sagenhafte Gewinne einstreichen. Sein Vorwissen um wirtschaftliche Entwicklungen könnte aus ihm leicht einen mehrfachen Millionär machen. Aber er dachte weiter. Wieso denn so umständlich? Wozu sich auf eine Materie einlassen, von der er nicht den blassesten Schimmer hatte, die er sich während unzähliger Zeitausflüge erst mühsam beibringen mußte? Warum nicht gleich in der 2001-Welt bei der Lottogesellschaft die wöchentlichen Gewinnzahlen seit 1991 abfragen? Vielleicht ging so etwas ja auch über Internet. Niemand würde stutzig werden, wenn er, sagen wir mal, dreimal in einem Jahrzehnt den Jackpot knackte. Von solchen unverschämten Glückspilzen hatte er schon gehört.
Da gab es allerdings, was ihn betraf, ein unlösbares Problem. Er wollte, er konnte einfach nicht durch die Tür zurück. Allein beim Gedanken daran packte ihn das nackte Grausen, und sein Herz geriet aus dem Takt. Er hatte die dunkle Ahnung, daß mit ihm und seiner Welt etwas unbeschreiblich Entsetzliches passieren würde, wenn er es täte. Vielleicht war das pure Einbildung, und vielleicht würde die Geldnot ihn irgendwann doch zu diesem Schritt zwingen. Doch die namenlose Angst vor dem Gang zurück ließ ihm zumindest jetzt derlei Tricks unmöglich erscheinen. Wenn er vielleicht Ida dazu überreden könnte ... Aber dann hätte er ihr gestehen müssen, daß er sein Talent verloren hatte. Und dieses Geständnis würde ihr mühsam zurückerobertes Paradies schon jetzt wieder zerstören.
Ali setzte sich auf einen kleinen Holzhocker neben einen der Chaostische und ließ sein Gesicht vom einfallenden Sonnenschein streicheln. Trotz der drängenden Probleme wurde er sich erneut bewußt, wie sehr er diesen Ort liebte. Mächtige Energiequellen und Kreativitätsimpulse schienen hier verborgen. Man mußte sich nur den Schleier von den Augen reißen und sie entdecken. Er nahm einen aufgeschlagenen Malblock und ein Kohlestäbchen vom Tisch und zeichnete einen großen Kreis. Dann zog er einen von unten kommenden Strich bis zum Zentrum des Kreises.
Er lehnte sich zurück und betrachtete sein Kunstwerk. Zum ersten Mal in seiner Berufslaufbahn fragte er sich, was er da bloß gezeichnet hatte. Das war aus ihm geworden, ein Strichmännchenmaler? Wie traurig. Er setzte die Kohle trotzig erneut an. Seine Hand entwickelte langsam ein Eigenleben. Sie vollführte derbe Zacken, Wölbungen und kurze Geraden auf dem Papier, die von dem Daumenballen durch gekonntes Reiben und Wischen gesoftet und in Form gebracht wurden. Rasch entstanden Schatten in unterschiedlich abgestuften Grautönen, die dem Dargestellten Tiefe verliehen. Als letztes kam die Feinarbeit. Schnelle, sparsame Strichelungen, um Konturen hervorzuheben. Nun sah er, was er geschaffen hatte: einen nicht näher identifizierbaren Kopf auf einem Schulteransatz aus einer tiefen Perspektive. Aber was hatte es mit dem Strich auf sich, der bis zum Mittelpunkt des ursprünglichen Kreises reichte? Er arbeitete wie besessen weiter, und zum ersten Mal nach langer Zeit verspürte er dabei kein Bedürfnis, sich mit der freien Hand an einem Glas Schnaps festzuhalten. Das Unglaubliche geschah: Er hatte Spaß daran!
Das Endergebnis nach einer Stunde stellte für ihn, wenn er ehrlich war, keine Überraschung dar. Er hatte seinen morgendlichen Beinahetod gezeichnet, den schrecklichen Augenblick, als es ihm so vorgekommen war, als wäre er gestolpert und auf den Zaunspeer gestürzt. Der Kreis war sein Kopf und der Strich die Lanze, die sich hineingebohrt hatte. Mein Gott, was für ein Motiv! Plötzlich stand er in Flammen, in Flammen der Gestaltungskraft. Sofort ging er zu Leinwand und Ölfarbe über, er mußte diesen Moment einfach in Farbe und mit den Mitteln abbilden, die er beherrschte.
Als die Sonne dr außen zu einem klebrigen Varieté licht verglüht war, hatte er bereits den ersten Grobanstrich fertiggestellt. Es war ein überwältigendes Bild geworden. Grausam und mystisch zugleich, von einem grünlichen Licht durchdrungen, beim Betrachter ein Gefühl von Erlösung hervorrufend. Der Stich des Zaunstabs in das weiche Fleisch unter dem Kinn war eine Meisterleistung an Konturgestaltung, die verwirbelten Haare zeugten von einer düsteren Romantik. Obwohl die fotorealistische Detailfreude auch hier weitgehend dominierte, blieb das Gesicht völlig diffus. Helligkeit und Dunkelheit waren an dieser Stelle derart überbetont, daß Augen, Nase und Mund zwar ansatzweise zu erkennen waren, der
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