Die Türme der Mitternacht
völlige Vernichtung, nein, den völligen Verfall seines Volkes sah? Den Menschen war jeder Schritt, den sie machten, logisch erschienen. Aber jeder davon hatte die Aiel ihrem Ende näher gebracht.
Sollte jemand so schreckliche Visionen sehen müssen? Sie wünschte sich, den Säulenwald nicht noch einmal betreten zu haben. Trug sie die Schuld für die zukünftigen Ereignisse? Es war ihr Geschlecht, das ihrem Volk den Untergang bringen würde.
Das ähnelte überhaupt nicht den Geschehnissen, die sie bei ihrem ersten Besuch in Rhuidean beim Durchgang durch die Ringe gesehen hatte. Das waren Möglichkeiten gewesen. Die heutigen Visionen erschienen viel realer. Fast war sie sich sicher, dass ihre Erlebnisse nicht einfach nur eine von vielen Möglichkeiten gewesen waren. Was sie gesehen hatte, würde geschehen. Schritt für Schritt nahm man ihrem Volk die Ehre. Schritt für Schritt wandelten sich die Aiel von stolz zu kläglich.
Da musste es noch mehr geben. Wütend stand sie auf und machte einen Schritt. Nichts geschah. Sie ging den ganzen Weg bis zum Rand der Säulen, dann drehte sie sich zornig um.
»Zeigt mir mehr«, verlangte sie. »Zeigt mir, was ich tat, um das zu verursachen! Es ist meine Linie, die uns den Ruin brachte! Welche Rolle spiele ich dabei?«
Sie trat wieder zwischen die Säulen.
Nichts. Sie erschienen tot. Sie berührte eine von ihnen, aber da war kein Leben. Kein Summen, kein Gefühl von Macht. Sie schloss die Augen und drückte eine weitere Träne aus den Augenwinkeln. Die Tränen rannen ihr Gesicht hinunter und hinterließen Bahnen kalter Feuchtigkeit auf ihren Wangen.
»Kann ich das ändern?«, fragte sie.
Wenn ich es nicht kann, wird mich das davon abhalten, es zu versuchen?
Die Antwort war einfach. Nein. Sie konnte nicht leben, ohne zu versuchen, dieses Schicksal zu verhindern. Die Suche nach Wissen hatte sie nach Rhuidean geführt. Nun, sie hatte es erhalten. Viel mehr, als sie gewollt hatte.
Sie öffnete die Augen und biss die Zähne zusammen. Aiel übernahmen Verantwortung. Aiel kämpften. Aiel standen für Ehre. Wenn sie die Einzige war, die ihre schreckliche Zukunft kannte, dann war es als Weise Frau ihre Pflicht zu handeln. Sie würde ihr Volk retten.
Sie verließ die Säulen, dann rannte sie los. Sie musste zurückkehren und sich mit den anderen Weisen Frauen beraten. Aber zuerst brauchte sie Ruhe, in der Weite des Dreifachen Landes. Zeit, um nachzudenken.
KAPITEL 24
Die Wahl der Feinde
E layne saß, die Hände nervös im Schoß gefaltet, auf ihrem Thron und lauschte dem Donnern in der Ferne. Sie hatte absichtlich den Thronsaal gewählt statt ein weniger formelles Audienzgemach. Heute musste man sie als Königin sehen.
Der Thronsaal mit seinen majestätischen Säulen und verschwenderischen Verzierungen war beeindruckend. An jeder Seite des Raumes gab es Zweierreihen goldener Kandelaber, die nur von den Säulen unterbrochen wurden. Davor standen Gardesoldaten in Weiß und Rot mit funkelnden Harnischen. Zu den Marmorsäulen passte der dicke scharlachrote Teppich, in dessen Mitte der Löwe von Andor in Gold eingewebt war. Er führte direkt zu Elayne, die die Rosenkrone trug. Ihr Gewand entsprach der traditionellen Mode und nicht der zur Zeit am Hof favorisierten; die Ärmel waren weit geschnitten und endeten in goldbesticktem Spitzentuch unter ihrer Hand.
Dieses Muster fand im Oberteil seine Entsprechung, das hoch genug reichte, um der Schicklichkeit Genüge zu tun, aber immer noch tief genug war, um alle zu erinnern, dass Elayne eine Frau war. Die noch immer unverheiratet war. Ihre Mutter hatte ganz zu Anfang ihrer Herrschaft einen Mann aus Cairhien geheiratet. Andere mochten sich fragen, ob Elayne das Gleiche tun würde, um ihre Macht dort zu festigen.
Wieder donnerte es in der Ferne. Der Lärm der abgefeuerten Drachen wurde langsam vertraut. Kein richtiger Donnerschlag - tiefer, regelmäßiger.
Elayne war beigebracht worden, ihre Nervosität zu verbergen. Zuerst von ihren Lehrern, dann von den Aes Sedai. Was auch immer manche Leute denken mochten, Elayne Trakand konnte ihr Temperament zügeln, wenn das nötig war. Sie ließ die Hände im Schoß liegen und zwang sich zur Ruhe. Nervosität zu zeigen würde viel schlimmer sein als Zorn.
Dyelin saß neben dem Thron auf einem Stuhl. Die stattliche Frau trug ihr blondes Haar offen, und sie arbeitete ruhig an einer auf einem Reifen aufgespannten Stickerei. Dyelin behauptete, das würde sie entspannen, so hatten ihre Hände
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