Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
Satake hielt mit größter Sorgfalt alles über sich selbst geheim.
Keiner kannte seine Adresse. Satake hatte noch nie jemanden von ihnen in seine Wohnung gelassen. Chén, der Manager, wollte einmal zufällig einen Mann wie Satake vor einem alten, zweistöckigen Mietshaus in West-Shinjuku gesehen haben. Aber dieser Mann hätte ganz gewöhnliche, unauffällige Sachen getragen, keine ausgesuchte Markenkleidung wie der Chef. In alten Hosen mit ausgebeulten Knien und einem an den Ellbogen durchgescheuerten Pullover hätte er Müll vor die Tür gebracht. Wie ein heruntergekommener Büroangestellter hätte er gewirkt und mit ärgerlichem Gesicht den verstreuten Abfall auf dem Müllplatz eingesammelt. Erst dieses Verhalten hätte Chén überhaupt auf die Idee gebracht, dass es sich tatsächlich um den Besitzer des »Mika« handeln könnte. Er sei überrascht und gleichzeitig erschrocken gewesen, hatte er Anna erzählt, es hätte ihm Angst gemacht.
»Der Chef, den wir kennen, kleidet sich auffällig, aber sorgfältig und gut. Ich habe ihn immer für jemanden gehalten, auf den man sich verlassen kann, auch wenn er schweigsam ist. Aber wenn es sich bei dem Mann, den ich gesehen habe, wirklich um unseren Chef handeln und das sein wahres Gesicht sein sollte, dann ist der Gegensatz viel zu groß. Es würde bedeuten, dass sein ganzes Auftreten hier im Club nur gespielt wäre. Aber dann ist es doch merkwürdig, wieso er es nötig hat, uns etwas vorzutäuschen? Warum muss er sein wahres Gesicht verbergen? Hat er kein Vertrauen zu uns? – Man kann nicht leben, ohne jemandem zu vertrauen. Denn das heißt doch im Grunde nichts anderes, als dass man sich selbst nicht traut.«
Satake gab Rätsel auf; ein Geheimnis schien ihn zu umgeben. Die Angestellten fanden Chéns Geschichte unheimlich, aber gleichzeitig übte die Tatsache, dass Satake sich so sorgfältig abschottete, einen großen Reiz auf sie aus. Warum tat er das? Was war er für ein Mensch? Jeder hatte seine eigene Theorie.
Aber mit Chéns Meinung, dass Satake in Wahrheit niemandem mehr misstraute als sich selbst, konnte Anna sich nicht anfreunden. Sie verspürte die Eifersucht einer jungen, verliebten Frau. Es musste eine andere geben. Eine Frau, vor der Satake sich nicht zu verstellen brauchte und so sein konnte, wie er war.
Eines Tages fragte sie ihn schließlich: »Wohnst du mit einer Frau zusammen, O-nii-chan?«
Satake sah sie erstaunt an und war einen Augenblick wie benommen. Dieses Zögern fasste Anna als Beweis dafür auf, dass sie ins Schwarze getroffen hatte, und fragte weiter: »Wer ist sie?«
»Nein, nein«, lachte Satake, und im selben Moment verloren die sumpfigen Seen in seinen Augen jeden Glanz, als hätte man im Club das Licht gelöscht. »Ich habe noch nie mit einer Frau zusammengelebt.«
»Dann magst du also keine Frauen, O-nii-chan?« Anna war beruhigt, dass es offenbar keine andere Frau in Satakes Leben gab, fürchtete nun aber, er könnte vielleicht homosexuell sein.
»Doch, sehr sogar. Und am liebsten mag ich so schöne, süße Frauen wie dich, Anna-chan. Ich betrachte dich als unglaubliches Geschenk, für das ich dankbar bin, wirklich!«, sagte Satake, griff nach ihrer Hand mit den langen, schlanken Fingern, legte sie in seine Linke und strich mit der Rechten darüber. Anna kam sich vor wie ein Werkzeug, dessen Güte geprüft wurde. Und sie spürte genau, dass er mit »mögen« nicht mehr gemeint hatte als die allgemeine Bewunderung eines Mannes für weibliche Schönheit.
»Wem bist du dankbar dafür?«
»Dem Himmel, für das Geschenk, das er den Männern gemacht hat.«
»Und die Frauen? Gibt es für mich auch so ein Geschenk?« Anna sprach von Satake, aber der schien das nicht zu bemerken.
»Tja, Männer wie Tony Leung zum Beispiel, was meinst du?«
Anna legte den Kopf schief. »Das glaube ich kaum.«
Denn eine Frau wollte immer die Seele eines Mannes berühren. Das Äußere allein genügte nicht – wie auch! Und es konnte auch immer nur eine Seele geben, die man berühren wollte: jene, die mit der eigenen im Einklang stand. Satake dagegen schien, wenn er von einer »schönen, süßen Frau« sprach, nicht einmal die äußere Hülle der dazugehörigen Seele zu meinen, sondern nur ein liebes, kleines Objekt, das er verhätscheln konnte. Die Seele interessierte ihn nicht, offenbar brauchte er sie nicht. Und wenn das zutraf, folgerte Anna enttäuscht, dann war ihm doch jede x-beliebige Frau recht, wenn er sie nur niedlich fand! Ihr aber
Weitere Kostenlose Bücher