Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
darin. Dann musste sie eben irgendwie Tetsuya zu fassen bekommen und das Geld aus ihm herauspressen.
»Wo steckt der Kerl bloß?«
Kuniko schlug in ihrem Notizbuch nach und rief in Tetsuyas Firma an, aber so früh am Morgen meldete sich dort noch niemand. Vielleicht sogar besser so, ein Anruf würde ihn bloß vorwarnen, so dass er sich wieder drücken könnte. Langsam wurde Kuniko nervös. Wenn sie heute nicht einzahlte, würden sie ihr bestimmt ein paar zwielichtige Gestalten, womöglich Yakuza, auf den Hals hetzen, die bis in ihre Wohnung kämen, um das Geld einzutreiben. Das fürchtete Kuniko am meisten, denn aller Durchtriebenheit zum Trotz war sie doch im Grunde ihres Herzens ein Angsthase.
Sie stürzte ins Schlafzimmer und riss die unterste Schublade der Kommode auf. Für den äußersten Notfall hatte sie dort zwischen Strümpfen und Unterwäsche eine eiserne Reserve versteckt. Doch wie sehr sie das mit Nylons, Büstenhaltern und Slips voll gestopfte Fach auch durchwühlte – das Geld war einfach nicht mehr da.
Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihr auf. Sie riss die anderen Schubfächer und die Schranktüren auf – Tetsuyas Unterwäsche, seine gesamte Kleidung war verschwunden. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie endlich begriffen hatte, dass er ausgezogen war und aus Rache für ihre ewigen Anfeindungen alles Bargeld aus der Wohnung mitgenommen hatte.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie setzte sich ins Auto und raste zum Bahnhof, um am Geldautomaten nachzusehen, wie
viel noch auf ihrem gemeinsamen Bankkonto war: Auf dem Display erschien eine stattliche Null. Tetsuya musste alles abgehoben haben. Jetzt würde sie nicht einmal mehr die Miete bezahlen können. Vor lauter Wut raufte Kuniko sich die Haare.
Um dem Stau endlich zu entkommen, bog Kuniko an einer Ampel links ab und näherte sich einem städtischen Wohngebiet mit lauter heruntergekommenen, einstöckigen Reihenhäusern. Da fiel ihr eine Telefonzelle ins Auge, die sich brandneu vor diesem Hintergrund absetzte. Kuniko hielt an und rannte darauf zu, ohne auch nur den Schirm aufzuspannen.
»Hallo, ist dort die Max-Pharma-GmbH? Könnte ich bitte Herrn Jōnouchi vom Vertrieb sprechen?«
Die Antwort, die sie bekam, erwischte sie kalt: »Es tut mir Leid, aber Herr Jōnouchi ist seit letzten Monat nicht mehr bei uns.« Tetsuya hatte sie doch tatsächlich hereingelegt! Der Mann, den sie nicht für voll genommen, den sie als hirnlosen Tölpel verachtet und verspottet hatte! Glühende Wut stieg in Kuniko auf und trieb sie dazu, das an den Ecken zerfledderte Telefonbuch auf den Boden der Zelle zu schmeißen und mit ihren regennassen Schuhen darauf herumzutrampeln. Die dünnen Seiten rissen, Papierfetzen wirbelten durch die Telefonzelle. Aber sie hatte noch nicht genug: In blinder Zerstörungswut hängte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht an die Gabel und riss mit aller Kraft daran herum.
Ihr Zorn verrauchte natürlich auch dadurch nicht. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Was machte sie denn jetzt bloß, wohin sollte sie sich verkriechen, wenn sie heute kämen, um das Geld einzutreiben!
Masako war ihre einzige Rettung, sie musste sie bitten, ihr etwas zu leihen, beschloss Kuniko. Schließlich schien diese Yoshië heute früh dasselbe getan zu haben. Dann konnte sie das doch wohl genauso gut, was war denn schon dabei? Wenn Masako ihr nicht aushelfen würde, dann doch nur aus purer Gehässigkeit! Musste doch selbstverständlich für sie sein, ihr auch etwas zu leihen, folgerte Kuniko selbstsüchtig, denn sie sah sich immer als Nabel der Welt.
Sie steckte ihre Telefonkarte wieder in den Apparat und drückte Masakos Nummer. Aber es tat sich nichts; wie oft sie die Karte auch
hineinsteckte, sie kam immer wieder zurück. Kuniko schnalzte mit der Zunge, gab auf und beschloss, direkt bei Masako vorbeizufahren.
Ihr Haus konnte nicht mehr allzu weit von hier weg sein, überlegte Kuniko. Sie war zwar bloß ein einziges Mal dort gewesen und erinnerte sich nur dunkel daran, aber sie würde es schon irgendwie wiederfinden. Sie kehrte zu ihrem Auto zurück und fuhr, als sie irgendwann rechts die große Mietskaserne erkannte, auf den Shin-Oume-Highway auf.
Masakos Haus war zwar klein, aber ein relativ neues, nach individuellen Wünschen gebautes Eigenheim. Wenn ich so eins bloß erst hätte, dachte Kuniko neidisch. Aber wenn man bedachte, wie wenig Masako auf ihre Kleidung hielt, konnte es mit dem Wohnen auch nicht so weit her sein – luxuriös war
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