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Die Un-Heilige Schrift

Die Un-Heilige Schrift

Titel: Die Un-Heilige Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmuth Santler
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Da dies alles in ganz besonderem Maße im Zusammenhang mit der meistuntersuchten und debattierten Nag-Hammadi-Schrift, dem Thomasevangelium, geschehen ist, wird das Problem der Schriftendatierung im Detail am Anfang des entsprechenden Kapitels diskutiert. Zuvor noch ein paar Zeilen zum Fund selbst.
Die Codices waren vor der Großkirche versteckt worden – oder wurden als Informationsquelle über Irrlehren nicht mehr gebraucht.
    In der Nähe des Fundortes befand sich ein Kloster nach Pachomios; dies legt die Vermutung nahe, dass die Schriften als gnostisch ausgesondert werden mussten, die dafür Verantwortlichen es aber nicht übers Herz brachten, sie einfach wegzuwerfen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass die kleine Bibliothek eigens zu dem Zweck zusammengestellt worden war, um über das Denken der Abweichler bestens informiert zu sein – und gegen Ende des 4. Jh. schlichtweg nicht mehr gebraucht wurde, da sich die Großkirche bereits ausreichend etabliert hatte. Die Mönche hätten in diesem Fall immerhin noch so viel Respekt vor den Andersdenkenden aufgebracht, dass sie dem Schrifttum eine Erdbestattung vergönnten und es der Geschichte überließen. Die dritte Erklärung für den Fund geht von der Annahme aus, dass die Nähe des Klosters rein zufällig sei und der Tonkrug mit dem häretischen Inhalt ganz bewusst vor der vernichtenden Nachforschung durch die Großkirche in Sicherheit gebracht worden ist.
    Klar ist jedenfalls, dass allein die Existenz dieser Schriftensammlung ein mehr als deutliches Signal dafür ist, wie viele unterschiedliche Strömungen es im frühen Christentum gegeben hat – und natürlich umgekehrt gedacht, wie viele Denkrichtungen aus dem wachsenden Corpus Kirche in diesen Jahrhunderten ausgeschieden wurden.
    Ein neues Bild des frühen Christentums
    Die Vielfalt und tiefe Religiosität des gnostischen Denkens, die aus den Nag-Hammadi-Schriften spricht, hat unser Bild der damaligen Geistigkeit vertieft und erweitert – im positiven wie im negativen Sinn. Denn während die (eine) Kirche sich durchsetzte und ihre Vorstellung von Christentum zur einzig gültigen erklärte, mussten sich die meisten Verfasser der koptischen Codices den Vorwurf der Häresie gefallen lassen. Sie wurden aus dem Kirchenleben ausgeschlossen, ihre Schriften wurden verbannt und ihre Namen tauchten nur noch in formverletzender Polemik seitens der ideologisch konformen Kirchenschriftsteller auf.
    Wie viel an Denkweisen den selbst ernannten Verkündern der wahren Lehre ein Dorn im Auge war, wird angesichts der enormen Menge an Schriften deutlich, die in Nag Hammadi gefunden wurden: 1.240 Seiten wurden gezählt. Und auch die Formenvielfalt und die Zusammenstellung dieser Texte erlauben durchaus die Bezeichnung „gnostische Bibliothek“. In den Codices, den unter Christen üblichen gebundenen Blattsammlungen im Gegensatz zu den bis dahin üblichen Schriftrollen, sind sämtliche biblisch-literarischen Gattungen vertreten: Gebete, Briefe, Apostelakten, Apokalypsen, Berichte von Himmelfahrten, theologische Abhandlungen, Dialoge, Hymnen, interpretierende Geschichtserzählungen und natürlich auch die für das Christentum wichtigste Textgattung, Evangelien.
    Diese Umstände „legten“ es für Gerd Lüdemann und Martina Janßen „nahe“, die erste deutschsprachige Gesamtübersetzung der Nag-Hammadi-Schriften mit „Bibel der Häretiker“ zu übertiteln. Diese Arbeit wurde 1997 veröffentlicht, mehr als 50 Jahre nachdem der Fellache Muhammad Ali einen Tonkrug in der Hoffnung auf einen Goldfund zerschlagen hatte.
Die "Bibel der Häretiker"
    Diese Verzögerung wird verständlicher, wenn man einen kurzen Blick auf die Erforschungsgeschichte der Nag-Hammadi-Schriften wirft. Bezeichnenderweise war der Codex I, der auch als Jung-Codex ob seines zeitweiligen Besitzers geführt wird, der erste in Übersetzung vorliegende Teil der „gnostic gospels“, wie die Ketzerbibel im englischen Sprachraum gerne populär genannt wird. Bis 1966 sollte er auch der einzige bleiben – in Ägypten herrschte eine unsichere politische Situation, die Minderheiten-Stellung der Kopten dürfte auch nicht zur Beschleunigung der Veröffentlichung beigetragen haben. In diesem Jahr ergriff James M. Robinson die Initiative, formte eine Expertenrunde und erklärte sein Ziel: Die Herausgabe einer zweisprachigen, englisch-koptischen Edition. 1970 formten die UNESCO und das ägyptische Kulturministerium das „International Committee for the Nag

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