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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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Grab? Aber wenn er nun nicht ins Wasser gehen wollte , wenn er sich dagegen sträubte mit all seiner Kraft …? Ach, warum war alles nur so kompliziert? Mit klappernden Zähnen setzte er den Weg fort.
    Der Schnee fiel ihm in den Kragen und jede Flocke brannte wie ein Stich. Er bekam unbändige Lust zu rennen. Loszulaufen und zu fliehen, den Körper zu reinigen, ihn trunken zu machen vor Erschöpfung, sich in die Nacht zu stürzen, irgendwohin, ganz gleich wohin.
    Ja, er wollte die ganze Nacht rennen, wenn es sein musste bis ans Ende der Welt, zu den Gletschern, ins Packeis, wenn er nur endlich allein war, frei, und nichts mehr hören musste von der Tödlichen Wunde der Welt – der Liebe. Von dem Wort allein wurde ihm schlecht. Seine Seele war im Begriff, unter der Fuchtel der Liebe zu verrecken. Der Liebe seines Vaters und des Großen Roger, der Liebe, auf die sich alle Welt berief, Jesus, die Priester und Lehrerinnen, der Liebe, die Gott war und die einem das Recht gab, Leiden zuzufügen. Aber Rocheleau war nicht in der Lage zu rennen; er konnte kaum laufen, so sehr schmerzte ihn in diesem Moment die Klammer. Er hatte die Nase hochgereckt, gleich einem verirrten Hund. Der Glockenturm der Kirche steckte in den Wolken wie ein Holzpflock in der Brust eines Vampirs. Erinnerungen an einen Gruselroman spukten ihm durch den Kopf, er hörte Gemurmel, die Fenster sahen bedrohlich aus. Es brauchte allein schon Mut, nicht daran zu denken. Der Wind vertrieb die Wolken und legte den Himmel frei. Als er am Haus der Guillubarts vorbeikam, krampfte sich sein Herz zusammen.
    Nein, er wollte nicht mehr wiederkommen, es war zu schlimm. In einem aufrührerischen Anfall, der seinen ganzen Körper schüttelte, nahm er die Münzen aus seiner Tasche und hob die Hand, um sie in die Nacht zu werfen. Doch da hörte er Bradettes Stimme in seinem Kopf, die wieder und wieder sagte: »Du kommst wieder, du kommst wieder. Und dann bleibst du«, und ihm versagten die Kräfte. Die Kälte ließ seine Tränen an den Augenrändern gefrieren. Wenn er zum Firmament aufblickte, vervielfachten sich dadurch die Sterne ...
    Die Klammer war eine kleine Vorrichtung aus Metall, die sein Vater an seinem elften Geburtstag zwischen seinen Beinen angebracht hatte, um jene männlichen Regungen zu verhindern, denen kleine Jungen unterworfen sind und deren Anblick zu schmerzlich gewesen wäre für eine Mutter, die ihren Sohn vom Himmel herab mit so viel Wunderbarer Liebe bedachte.

D a der Samstag Besuchstag bei »seinen Alten« war, wie er sie trotz seiner vierundsiebzig Jahre immer noch nannte, ging Pfarrer Cadorette in die Rue Moreau, wo es von ihnen wimmelte.
    Nachdem er bei Mémille gewesen war, ging er nun zu den Crampons. Mémille, der den Pfarrer für seinen Großvater hielt, mit dem noch an die achtzig Jahre alte Rechnungen offenstanden, hatte ihn die ganze Zeit über beschimpft. Soviel Verständnis und Mitleid Cadorette auch aufbrachte, unangenehm war es trotzdem. Er fand, dass die Crampons gut daran täten, nett zu ihm zu sein, sonst würde er keine Gelegenheit auslassen, die kleinen Schleckermäuler seinerseits nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren an ihre alten Verfehlungen zu erinnern und zu triezen.
    Eine Schar Kinder zielte vergnügt mit Schneebällen auf die Spitze eines Pfeilers, und die Bälle fielen aufs Pflaster, wo sie wie Granaten explodierten. Cadorette hatte zwar gegen solche Spiele nichts einzuwenden, aber seine Nachsicht ging nicht so weit, diese kleinen Teufel in Versuchung führen zu wollen, da seine Kopfbedeckung, die sich auf seinem kahlen Ringkämpferschädel mehr schlecht als recht hielt, erfahrungsgemäß mit Vorliebe zur Zielscheibe wurde: Er beschloss, durch den Hof zu gehen, um in die Querstraße zu gelangen.
    »Ich gehöher für imer Justine Vilbroquais« … Der Pfarrer fragte sich, was wohl aus dem Rogatien geworden seinmochte, der seinen Namen unter dieses Rechtschreibexempel gesetzt hatte. In Rot stand es auf die Mauer geschrieben. Er konnte nie daran vorbeigehen, ohne einen Moment innezuhalten, und spürte jedes Mal, wie sich sein Herz in einer Mischung aus Rührung und Bitternis zusammenschnürte. So etwas konnte man nicht schreiben, ohne es eines Tages auf die eine oder andere Weise zu bereuen. Das Leben machte sich einen Spaß daraus, diese Art Giftschwur Lügen zu strafen. Was für ein Kind konnte das geschrieben haben, und aus welchem merkwürdigen Grund? In den dreißig Jahren, die er in der Gemeinde war, hatte

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