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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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Gary. Ich glaube, es ist gut so.
    Wo kommt das Bad hin?
    Wir benutzen ein Plumpsklo.
    Ein Plumpsklo?
    Eine Weile standen sie dort schweigend.
    Was ist mit einem Kamin?, fragte Irene schließlich. Gibt es einen Kamin?
    Schwierig, sagte Gary. Vielleicht einen freistehenden. Könnten wir anbauen.
    Irene begriff in einem einzigen Schreckensmoment, dass sie tatsächlich hier draußen wohnen würden. Die Hütte würde nicht richtig hinhauen. Sie würde nicht das Nötigste bieten. Trotzdem würden sie hier wohnen. Sie sah es glasklar vor sich. Und obwohl sie Gary amliebsten gesagt hätte, er solle allein herziehen, wusste sie, dass das nicht ging, weil er auf genau den Vorwand wartete. Er würde sie für immer verlassen, und es ging nicht an, noch einmal verlassen zu werden. Das würde ihr in diesem Leben nicht noch einmal passieren.
    Und Wasser?, fragte sie.
    Ich installiere eine Pumpe vom See.
    Gibt es Strom?
    Es wird eine Handpumpe, sagte er. Ich muss eine auftreiben.
    Ich meinte für Licht.
    Wir nehmen Laternen.
    Und der Herd?
    Propan. Ich besorge eine kleine Zweier- oder Dreierplatte.
    Und das Dach?
    Noch nicht sicher. Himmel, Irene, ich hab gerade erst angefangen. Der Boden passt schon mal, oder? Der Rest kommt nach und nach. Er legte eben den Arm um sie, zog sie dichter heran, einige ermutigende Knüffe.
    Okay, sagte sie. Ich glaube, ich muss zurück. Mein Kopf tut richtig weh. Ich muss mich hinlegen.
    Das haben wir gleich. Und dann half er ihr mit viel Getue ins Boot, holte die Werkzeuge usw. Der Auftrieb, der stets seinen Niederlagen vorausging. Und die waren die schlimmsten für Irene. All die gescheiterten Geschäftsideen, die selbstgebauten Boote, die das Budget gesprengt und sich dann gar nicht oder nicht gewinnbringend verkauft hatten. Immer hatte es so angefangen, voller Hoffnung. Und er war klug, gebildet. Erhätte es besser wissen müssen. Er hätte es besser treffen müssen. Ihr Leben hätte besser sein müssen.
    Gary war so vielversprechend gewesen. Ein Doktorand, gut genug, um in Berkeley aufgenommen zu werden. Lange Haare hatte er damals, blond und lockig. Wenn sie an einer Locke zog, federte sie zurück. Sie spielten Gitarre, im Schneidersitz, blickten einander in die Augen, sangen »Brown-Eyed Girl« oder »Suzanne«. Sie fühlte sich mit ihm verbunden, fühlte sich gewollt, zugehörig. Gary hatte ein schiefes, täppisches Lächeln und redete ständig über seine Gefühle und über ihre Gefühle. So zugänglich, und er versprach ihr, immer so zu bleiben.
    Alaska war seine Idee gewesen. Ein Jahr Pause von der Uni, eine kleine Unterbrechung, um ein bisschen Abstand von der Doktorarbeit zu bekommen, sich neu zu orientieren. Sie würden westwärts ziehen, die Wildnis aufsaugen. Sie hatte nicht recht geglaubt, dass sie wirklich aufbrechen würden. Aber Gary lief weg. Das hatte sie nicht begriffen. Er hatte nie vorgehabt, nach Kalifornien zurückzukehren.
    Gary hatte ein Sommerstipendium für seine Doktorarbeit, das hatten sie schnell aufgebraucht auf ihrer Reise durch Südost-Alaska, Ketchikan und Juneau, all die kleineren Städte, Wrangell, St. Petersburg. Auf der Suche nach der Idee von Alaska.
    Für Gary war diese Idee etwas Skandinavisches, eine Verbindung zu seinem Studium, zu Beowulf und »The Seafarer«, eine Gesellschaft von Kriegern, die die Walstraße überquert hatten, hinein in die Fjords zu einemneuen Leben, wo sie kleine, versippte Fischerdörfer gegründet hatten. Kleine Ansammlungen spitzdächiger Holzhäuser direkt am Wasser, die draußen keinen Namen haben. Dörfer in schmalen Buchten in Südost-Alaska zwischen Bergen, die sich vom Ufer aus gut tausend Meter hoch erhoben. Von einer Fähre aus wirkten sie unbewohnt, wie Geisterstädte, Überbleibsel aus der Zeit der Goldgräber und des Tauschhandels oder etwas noch Älterem. Gary suchte ein fiktives Dorf, die Rückkehr zu einer idyllischen Ära, in der ihm eine Rolle zufiele, eine vorgezeichnete Aufgabe als Schmied oder Bäcker oder Bänkelsänger. Genau das wollte er eigentlich sein, der »Gestalter«, der Sänger eines Volkes, seiner Geschichte, seines Ortes, was ein und dasselbe wäre. Und Irene wollte nur eines nie wieder: alleingelassen, herumgereicht und abgelehnt werden.
    Gary gab sein letztes Geld dafür aus, zu diesen Orten zu gelangen, mit privaten Booten überzusetzen. So aufgeregt jedes Mal, wenn sie losfuhren, und Irene wurde angesteckt von dieser Aufregung, doch jedes neue Dorf war eine Enttäuschung. Ein Haus hatte eine

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