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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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jedenfalls waren sie in aller Munde. Das große Wunder war, dass es ihnen nach dem Krieg endlich wieder gut ging, dass sie elektrische Küchenmaschinen, Zigarettenspender, Barschränke, runde Autos, Plattenspieler, Petticoats und Rockmusik hatten und endlich nach Capri reisen durften, um die rote Sonne zu sehen (ich bin sicher, Julchen ist sofort dorthingesaust, sobald sie die Fahrerlaubnis hatte). Die Menschen genossen ihre privaten kleinen Wunder, ob sie nun in Form eines Fernsehers, eines Telefons oder eines Kriegsheimkehrers daherkamen. Letzteres trat bei den Finsters ein.
    Eines Tages, es muss kurz nach unserer Niederlage im Fall »Wir finden Marlene und Charlotte« gewesen sein, kurz nach jenem schicksalsträchtigen Tag, an dem Melanie mich auf der Wiese hatte fallen lassen (für immer, wie sich rausstellte, sie fasste mich nie wieder an), im Herbst 1951 also, tauchte plötzlich ein fremder Mann im Dorf auf. Er klopfte bei uns.
    Viktoria wurde nicht müde, immer und immer wieder zu erzählen, wie ausgemergelt er aussah, als er vor unserer Tür stand, wie ermattet und wie abgekämpft.
    »Er fragte: ›Wohnt hier Familie Finster?‹ Und ich sagte: ›Nein, die wohnen zwei Häuser weiter.‹ Und dann fiel er mir einfach um den Hals, sank auf die Knie und fing an zu weinen. So was hab ich noch nie erlebt, ehrlich. Ich wusste ja gar nicht, was ich machen sollte mit dem armen Kerl«, erzählte sie, und jedes Mal stiegen ihr die Tränen in die Augen.
    »Wisst ihr, als er da so stand, dachte ich für einen winzigen Moment, es sei Hänschen …«
    Doch dieses Wunder geschah nicht. Hänschen blieb tot.
    Aber Frau Finster bekam ihren jüngeren Bruder wieder, der nach sechs Jahren russischer Kriegsgefangenschaft den langen Fußmarsch nach Dreihausen geschafft hatte. Niemand hatte gewusst, dass die stille, lächelnde Frau einen Bruder hatte, der zudem als vermisst galt. In ihrer unauffälligen Art hatte sie lautlos gelitten, allein zu Hause hinter verschlossener Tür.
    »Es ist mir so unendlich peinlich«, sagte Franziska. »Wir waren so mit unserer eigenen Suche beschäftigt … Dabei hat sie es sogar angedeutet, als sie mir damals die Suchanzeige brachte. ›Dann ist wenigstens eine Familie hier wieder komplett‹, hat sie gesagt. Ich habe überhaupt nicht darauf reagiert … Wir konnten ja nicht ahnen …«
    »Sie hat mir von ihm erzählt«, sagte Melanie. »Er liebt die Waldsteinsonate.«
    Alle sahen sie schweigend an. So war sie.
    Es hatte eine Weile gedauert, bis wir uns von der Enttäuschung erholt hatten, dass die Suche nach Marlene und Charlotte erfolglos geblieben war. Ich glaube, nach der Heimkehr von Paulchen Finster keimte auch bei uns noch einmal die Hoffnung auf, dass Marlene vielleicht doch eines schönen Tages einfach im Garten stünde. Doch das Pflänzchen war zu zart, um lange zu überleben. Wir versuchten uns damit abzufinden.
    Ich erlitt einen schweren Einbruch. Melanie war in dem Moment erwachsen geworden, als sie ihre Mutter weinend im Garten fand. Sie brauchte mich nicht mehr. Julchen war nach Marburg abgereist. Charlotte unauffindbar. Was sollte ich noch hier? Welchen Zweck erfüllte ich denn noch?
    Erst im August 1954 stellte sich diese Frage noch jemand anderes außer mir. Bis dahin saß ich als hauptberufliche Küchendekoration und Staubfänger über der Rosner’schen Eckbank und verfolgte das Geschehen. Akzeptiert und geduldet, jedoch ohne Aufgabe.
    Wer aber denkt, das sei eine langweilige Angelegenheit gewesen, täuscht sich zumindest in Teilen, denn es passierten mitunter aufregende Dinge. Und noch wenigstens ein Wunder, das ich hautnah miterlebte.
    Nach Julchens Weggang, und damit auch nach dem Verschwinden des einzigen Radios im Dorf, ermannte sich Onkel Albert und erstand einen Transistor für uns. Ich glaube nicht, dass er das getan hätte, wenn nicht ein wirklich großes Ereignis angestanden hätte – dafür war der Kampf mit Viktoria zu hart.
    »Es ist nur alle vier Jahre WM«, erklärte er an einem kühlen Tag im Mai 1954, »da brauchen wir doch wohl ein Radio im Dorf.«
    Ich horchte auf. Die Musik fehlte. Natürlich längst nicht so sehr wie Julchen, aber trotzdem – es wäre schön gewesen, wenn ab und zu mal wieder jemand gesungen hätte. Und sicher hörte sich eine WM besonders schön an, wenn sogar der sparsame Albert diese Ausgaben dafür tätigen wollte. Mit der Zeit erfuhr ich dann auch, was es mit dieser sogenannten WM auf sich hatte. Es ging nicht um Musik. Es ging um

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