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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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Finster um den Hals fiel, Albert sprang auf und Viktoria und Franziska lagen einander in den Armen. Selbst Melanie tanzte mit. Der Reporter versuchte, den Jubel zu übertönen. Seine Stimme ging beinahe unter im Geschrei der Dreihausener. Es war noch nicht vorbei. Noch hatte Deutschland nicht gewonnen. Herbert Zimmermann schrie weiter:
    »Deutschland führt drei zu zwei im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft, aber es droht Gefahr, die Ungarn auf dem rechten Flügel – jetzt hat Fritz Walter den Ball über die Außenlinie ins Aus geschlagen. Wer will ihm das verdenken? Die Ungarn erhalten einen Einwurf zugesprochen, der ist ausgeführt, kommt zu Bozsik – Aus! Aus! Aus! – Aus! – Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit drei zu zwo Toren im Finale in Bern!«
    Ich landete auf dem Küchenboden, und sie feierten endlich das Wunder, auf das sie so lange gewartet hatte.
    Bis heute weiß ich nicht, wie es dazu kam, dass Marga Möhrchen mich nach dem Fußballspiel mit nach Hause nahm und mein Schultergelenk reparierte. Ich kehrte danach jedenfalls nicht wieder in das Haus mit der Nummer 1 zurück. Scheinbar reklamierte niemand mein Fehlen. Auch aus dem Leben der Familie Rosner war ich einfach verschwunden.
    Was hätte ich noch vor einem Jahr gegeben, hier unter diesem Dach zu leben – in Julchens Nähe. Doch jetzt war Julchen weg und lächelte nur von einem Foto von der Wand. Ich sah es an und träumte mich zu ihr, träumte von einem Leben an ihrer Seite in Marburg, von ihrer fröhlichen Stimme und ihren fliegenden Röcken. Ansonsten passierte nichts. Bis plötzlich dieser Brief aus Frankreich kam. Marga erzählte Frau Finster beim nächsten Kaffeeklatsch ganz aufgeregt davon.
    „Sieh mal“, sagte sie und hielt der Nachbarin das Blatt unter die Nase, „ich habe Post von einer alten Freundin aus Frankreich bekommen. Mensch, ist das lange her, dass wir zuletzt voneinander gehört haben.“ Sie senkte die Stimme und flüsterte vertraulich: „In meinen wilden Jahren, weißt du, hab ich mal ein Jahr als Kindermädchen in Paris gearbeitet. Marie und ich hatten viel Spaß damals! Die verrückten Zwanziger, du weißt schon … Das waren noch Zeiten.“ Sie zwinkerte Frau Finster zu und verdrehte schwärmerisch die Augen.
    Ich horchte auf. Sie war in Paris gewesen?
    „Ich hatte ja keine Ahnung, was aus Marie geworden ist!“, fuhr Marga fort. „Sie schreibt, sie ist mit einem Winzer verheiratet. Weiß der Himmel, wie sie an den geraten ist.“
    „Das hört sich doch sehr romantisch an“, sagte Frau Finster verträumt. „Sicher hat sie ein herrliches Leben auf einem alten Weingut, irgendwo in einer traumhaften Landschaft. Ich kann mir das richtig vorstellen!“
    „Ich weiß nicht. Ich finde, sie hört sich irgendwie nicht glücklich an. Aber vielleicht ist mein Französisch inzwischen einfach zu schlecht.“
    „Du musst ihr schreiben, sicher freut sie sich riesig und vielleicht kannst du sie ja auch mal besuchen – jetzt wo Julchen weg ist …“
    „Du hast recht. Ich schreibe ihr gleich. Und dann packe ich ihr ein kleines Päckchen, mir scheint, sie kann eine Aufmunterung gut gebrauchen.“
    Ich ahnte ja nicht, dass ich Teil dieser Aufmunterung sein sollte. Ich habe bis heute keine Ahnung, wieso sie mich zu Landschinken, Wollsocken, Himbeergelee und einem Liebesroman packte. Sie erklärte es mir nicht.
    Marga, Marga. Eigentlich gab sie den Startschuss zu meinem Unglücksjahr.
    Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht gerne an dieses Jahr. Ich spreche auch nicht gern darüber. In jedem Leben gibt es Tiefpunkte, die man lieber in seiner Seele vergräbt. Darum mache ich es kurz:
    Die Reise im Paket dauerte zwei Wochen. Ich wurde hin und her geworfen. Es war heiß und stickig, und ich konnte nichts sehen. Es war nicht schlimm, aber auch nicht spektakulär. Heutzutage steigt man hier in ein Flugzeug, dort wieder aus und dann ist drum herum alles anders. In einem Paket ist es ganz ähnlich, man hat ebenfalls wenig Platz, und die Luft ist schlecht.
    Anfangs war ich auch recht froh, wieder dort zu sein. Aber schon bald wurde mir klar, dass über diesem Weingut im Beaujoulais, wo man mich hinexpediert hatte, kein guter Stern stand. Es gab keine Liebe. Und wenn jemand in diesem Punkt ein Experte ist, dann ich.
    Die Familie, bei der ich gelandet war, hieß Brioche, und man hätte meinen können, sie wollten mir ans Leder: Die kleine Lucille, Tochter von Margas Freundin Marie, ließ mich gleich am

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