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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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Fußball.
    »Wozu brauchst du denn ein Radio? Da kannst du auch nicht besser sehen«, wandte Viktoria ein, die nicht besonders traurig darüber war, dass Julchen inzwischen andernorts die Begleitung zu Radiomusik intonierte.
    »Es reicht mir immerhin zu hören, was passiert«, wandte Albert ein. »Einen Fernseher wirst du mir ja kaum erlauben.«
    »Wie recht du hast. Aber wenn du unbedingt hören musst, wie zweiundzwanzig Männer einem Ball hinterherrennen, dann bitte, geh und kauf dir dein Radio. Aber bild dir bloß nicht ein, dass du es in meine Küche stellen kannst.«
    Ich versuchte, mir so ein Fußballspiel vorzustellen. Die Menschen kamen wirklich auf die merkwürdigsten Ideen, aber das war mir ja eigentlich nicht neu. Offensichtlich hatten sie vom Kämpfen die Nase noch immer nicht voll. Nachdem die Länder endlich aufgehört hatten, einander mit Kanonen zu beschießen, taten sie es nun also mit Bällen. Land gegen Land. Wie im Krieg.
    Das Radio stand zunächst im Wohnzimmer, doch nachdem die deutsche Mannschaft es bis ins Halbfinale geschafft hatte, gestattete Viktoria großmütig, dass in der Küche zugehört wurde. Sogar Wippchen und Herr Finster kamen zu Besuch, wenn ein Spiel übertragen wurde, und als am 4. Juli das Endspiel anstand und Deutschland gegen Ungarn antreten sollte, erschienen auch Paulchen, Marga Möhrchen und Frau Finster. Das Dorf war komplett. Und ich hatte auf der Eckbank den Königsplatz inne. Mitten im Geschehen – so wie es mir am liebsten ist.
    Albert drehte das Radio an. Es rauschte und knisterte.
    »Seid doch mal leise, ich höre ja nichts«, sagte er, und alle verstummten.
    Es rauschte und knatterte weiter, dann plötzlich hörte man eine klare Männerstimme sagen:
    »Hier sind alle Sender in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin, angeschlossen Radio Saarbrücken. Wir übertragen aus dem Wankdorf-Stadion in Bern das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Ungarn. Reporter ist Herbert Zimmermann.«
    »Das ist es, das ist es«, rief Wippchen aufgeregt und zog an seiner Zigarre. Sogar Rauchen war zur Feier des Tages erlaubt. Albert stellte Bier auf den Tisch.
    »Geht das nicht lauter?«, fragte Marga, die inzwischen ein bisschen schlechter hörte als früher.
    »Noch lauter?«, versuchte Viktoria einen Einwand. »Wir werden ja noch taub.«
    »Wir wollen doch nichts verpassen, oder?«, sagte Herr Finster leise, und Albert drehte auf.
    Nach nur zehn Minuten schien in der Küche ein kollektiver Selbstmord unmittelbar bevorzustehen. Deutschland lag im Rückstand. Null zu zwei. Wippchen hielt sich die Ohren zu, Viktoria rief immerzu: »Nun schießt doch endlich!«, und Marga fragte: »Wie lange noch? Wie lange denn noch?« Und sie ergriff mich und umklammerte mich mit eiserner Hand.
    He, nicht so fest. Es ist doch nur ein Spiel.
    Ich fragte mich ernstlich, was passieren würde, wenn die Deutschen jetzt schon wieder verlören.
    Doch nach weiteren zehn Minuten hatte sich Dreihausen wieder beruhigt. Offenbar waren die elf Deutschen erfolgreich zum Gegenangriff übergegangen und hatten den Ausgleich erzielt. Ehrlich gesagt hatte ich noch nie zuvor erlebt, wie sehr Menschen mitfiebern können, wenn es um sportliche Ereignisse geht. Es war ungemein spannend. Selbst ich war vor Aufregung völlig aus dem Häuschen, obwohl ich in meinem Leben noch keinen Fußball, geschweige denn ein Fußballspiel gesehen hatte.
    Als der Reporter aus dem Lautsprecher schrie: »Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern«, schwiegen sie alle vor Aufregung. Es war mucksmäuschenstill. Die Kuckucksuhr über der Tür tickte vernehmlich, der Kühlschrank sprang polternd an. Zehn Menschen atmeten angestrengt durch den Mund, die Ohren aufgesperrt, die Augen ebenfalls – auch wenn es nichts zu sehen gab. Der Reporter redete sich in Rage. Die Worte sprudelten aus ihm hervor, schneller als Elizabeth Newman es je vermocht hätte. Er rief:
    »Jetzt Deutschland am linken Flügel durch Schäfer, Schäfers Zuspiel zu Morlock wird von den Ungarn abgewehrt, und Bozsik, immer wieder Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn, am Ball. Er hat den Ball – verloren diesmal, gegen Schäfer, Schäfer nach innen geflankt – Kopfball – abgewehrt – aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt! – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor …!«
    Marga schleuderte mich in die Luft, sie warf die Arme in die Höhe, und alle anderen jubelten und schrieen. Im Fallen sah ich, wie Wippchen Frau

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