Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Hoffnung stirbt zuletzt. Doch wenn sie stirbt, ist nicht mehr viel übrig.
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I ch frage mich, wie lange ich in diesem unseligen Zustand der Ungewissheit verharren soll. Es muss schon Stunden her sein, dass ich hier eingeschlossen wurde.
Nach meinen bisherigen Erfahrungswerten deutet alles auf den klassischen Fall des Zurücklassens hin. Ich kenne das. Wenn der Aufwand zu groß wird, wenn die Mühe den Wert des Resultats übersteigt, wählen die meisten Menschen lieber den einfachen Weg. Und ist es nicht oft einfacher, einen neuen Regenschirm zu kaufen, als die drei Straßen zum Café zurückzugehen, wo man den alten liegengelassen hat? Der Besitzer zuckt kurz zusammen, wenn er den Verlust bemerkt, rechnet und geht weiter. Leider, leider denken viele Menschen über Bären auch nicht anders als über Regenschirme.
Die Chancen stehen also nicht schlecht, dass die Schriftstellerin mich zugunsten ihrer Freiheit geopfert hat. Traurig wäre es schon, denn ich mochte sie. Ich mache auch keinen Hehl daraus, dass ich mir von der Begegnung einiges erhofft hatte. Wäre es nicht herrlich gewesen, nach diesen Jahren der Ereignis- und Heimatlosigkeit einen Altersruhesitz gefunden zu haben? Ein gemütliches Plätzchen für einen Bären, der das Spielzeugverfallsdatum längst erreicht hat? Von jemandem gefunden worden zu sein, der mich um meinetwillen schätzte, der meinen Wert erkannte? Ach, ich will nicht über mein Unglück lamentieren, dazu habe ich zu viel davon gesehen. Obwohl es, genau betrachtet, meist das Unglück der anderen war. Ich bin in der Regel immer mit heiler Haut davongekommen, wenn man mal von einigen Rissen und Fellabschürfungen und Tiefschlägen absieht. Ich habe Glück gehabt.
Doch das Glück hat viele Gesichter und geht verschlungene Pfade. Es zeigt sich jedem in anderer Gestalt. Ein Universal-Glück, fix und fertig in Flaschen abgefüllt, gibt es nicht. Und manchmal liegt es beim Unglück gleich nebenan. So war es jedenfalls bei mir. Mein größtes Glück war Isabelle.
FEUER UND FLUT
D ie Gardinen hatten schon Feuer gefangen. Sie brannten lichterloh. Als Nächstes barsten die Fensterscheiben in lautem Klirren. Und dann ging alles sehr schnell. Innerhalb von Sekunden hatten die Flammen die Couch aufgefressen, es sich auf dem Sessel bequem gemacht und den alten Flickenteppich verschluckt.
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was hier vor sich ging. Zunächst war ich von dem Schauspiel der Flammen so fasziniert gewesen, dass mir gar nicht klar wurde, in welcher Gefahr ich schwebte.
Die Vitrine, in der ich saß, stand auf der anderen Seite des Wohnzimmers, gleich neben dem Aufgang in den ersten Stock. Ich hatte eine Glastür zwischen mir und dem wütenden Feuer und dachte nicht im Traum daran, dass etwas passieren könnte. Meine Neugier war schon immer größer gewesen als meine Angst.
Doch als plötzlich eine Wand aus heißer Luft jedes einzelne meiner Haare erfasste, weil die Vitrinentür ebenfalls in unzählige Splitter zerfiel, wurde mir doch mulmig.
Ich wusste, dass Madame Brioche und Lucille nach Lyon gefahren waren, aber wo war der Alte? Bemerkte er denn nicht, dass sein Haus in Flammen stand? Sicher hatte er wieder den ganzen Vormittag in seinem Keller verbracht, und Wein gekostet und schlief auf der Pritsche zwischen seinen Fässern den Probierrausch aus.
Das tat er fast jeden Tag. Aber jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, sich auszuruhen.
Hilfe, dachte ich probehalber. Hilfe.
Aber wer sollte mich hören? Es war ja niemand da. Und selbst wenn, hätten sie sicher etwas anders zu tun, als einen Bären aus der Vitrine zu retten.
Die Hitze nahm zu, und parallel wuchs auch das Unbehagen.
Ich hatte keine Erfahrung mit Feuer, aber was sich da im Wohnzimmer abspielte, ließ wahrlich keinen Zweifel an seiner alles vernichtenden Kraft. Wenn es sich weiter in diesem Tempo ausbreitete, würde spätestens in zehn Minuten nichts mehr von mir übrig sein.
Wie begegnet man dieser Erkenntnis? Wenn man sein Leben lang gewohnt ist, sich nicht selbst retten zu können, wird man erstaunlich ruhig. Ich fragte mich lediglich, was ich eigentlich verbrochen hatte, dass in diesem Jahr alles derartig schief lief. So schief, dass ich jetzt sogar mit dem Leben zu bezahlen schien.
Die Zeit der Wunder war für mich vorüber gewesen, als ich aus Deutschland weggeschickt wurde. Das war 1954, im Herbst des vergangenen Jahres.
Dort hatte es in den Nachkriegsjahren von Wundern angeblich nur so gewimmelt,
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