Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
merken, wenn ich nicht mehr dranhänge.
Als hätte sie mich gehört, umfasste Melanie meinen Arm noch fester.
Ich konnte hören, wie mein Julchen Wippchen unbeschwert begrüßte:
»Hallo, Onkel Caspar«, flötete sie. »Ist das nicht ein herrlicher Tag?«
Eine Rauchwolke zog zu uns herüber, und er sagte:
»Ja, mein Augenstern, wunderschön. Fast so schön wie du.«
»Also, Onkel Caspar. Jetzt musst du aber aufhören. Ich werde ja ganz verlegen«, protestierte sie. »Du kannst doch einer jungen Dame nicht so schmeicheln!«
»Oh doch, das kann ich«, hörte ich Wippchens Stimme. »Sehr gut sogar.«
Dann mussten sie lachen.
In leisem vertrautem Tonfall erzählte Julchen von ihren Plänen und Träumen, und Caspar Wippchen brummelte hin und wieder eine Antwort.
Wie gern hätte ich bei ihnen gesessen. Wie gern hätte ich Julchen als meine Besitzerin gehabt. Wenn schon Marlene und Charlotte nicht auftauchten, wäre es dann nicht herrlich gewesen, mit Julchen nach Marburg zu ziehen?
Ich sehnte mich nach Wärme.
Doch Julchen verließ Dreihausen ohne mich. Stattdessen nahm sie ihr Radio mit.
Der Brief kam nach fast einem Jahr an einem Samstag.
Richtig daran geglaubt hatte inzwischen niemand mehr.
Franziska stand in der Stube auf einem Stuhl und versuchte mit dem Besen, die Spinnweben von der Gardinenstange zu kehren. Sie trug eine hellblaue Schürze über ihrem leichten Sommerkleid. Ein Kopftuch hielt ihre Haare zusammen, darunter trat ihr der Schweiß auf die Stirn.
Ich saß auf dem Sofa, wo Melanie mich am Vortag liegengelassen hatte.
Wir hörten das Klappern des Briefkastendeckels beide. Franziska hielt einen Moment inne, dann wischte sie weiter über die Gardinenstange.
Was ist? Willst du nicht nachschauen?
Als sie fertig war, schob sie den Stuhl zurück an seinen Platz. Sie wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn und zog das Kopftuch ab. Dann verließ sie den Raum.
Ich betete. Zum hundertsten Mal. Marlene, Marlene, Marlene.
Mit einem Umschlag in der Hand kam sie wieder herein. Ich wusste sofort, dass es der Brief war, auf den wir seit über einem Jahr warteten. Als bräuchte sie Unterstützung, kam sie herüber und nahm mich vom Sofa.
Mach ihn auf! Los!
Sie setzte sich an den Esstisch und platzierte mich neben der Obstschale. Dann drehte sie das Kuvert unschlüssig zwischen den Fingern, legte es vor sich auf die braune Platte und stützte den Kopf in die Hände.
Worauf wartete sie denn noch? Traute sie sich nicht?
Schließlich erhob sie sich noch einmal und holte ein Messer aus der Besteckschublade. Vorsichtig schlitzte sie den Umschlag auf und entnahm ein einzelnes Blatt Papier.
Als Melanie nach der Klavierstunde bei Frau Finster nach Hause kam, lag ich mit dem Gesicht nach unten auf dem Esstisch, mit der Nase auf dem Papier, das nach Büro und nach Schreibmaschine roch.
Wie gewohnt ergriff Melanie meinen rechten Arm. Mit der anderen Hand hob sie den Brief auf und las laut vor, was ihre Mutter zuvor nur stumm überflogen hatte:
Sehr geehrte Familie Rosner,
wir bestätigen den Eingang Ihrer Anfrage. Unter den uns vorliegenden namentlichen Meldungen ist der Name Ihrer Angehörigen nicht enthalten gewesen. Trotz Prüfung aller Schreibvarianten und unter Einbeziehung möglicher Übermittlungsfehler fand sich kein Hinweis, dem wir noch hätten nachgehen können. Marlene Ballhaus und ihre Tochter Charlotte gehören nach wie vor zu jenen Menschen, die verschollen sind, deren Schicksal ungeklärt ist. Grundsätzlich möchten wir nicht nochmals Hoffnungen wecken, doch haben die dramatischen Ereignisse der letzten Jahre sukzessive neue Informationsquellen erschlossen.
Ihr Suchantrag bleibt hier so lange offen, bis wir eine endgültige Aussage zum Schicksal der Verschollenen geben können beziehungsweise keine Möglichkeit mehr besteht, eine Schicksalsklärung herbeizuführen.
Die Stille dröhnte, das Zimmer drehte sich. Sie waren nicht auffindbar. Marlene und Charlotte waren verschollen. Mir wurde schwarz vor Augen, als die Tragweite dieser Aussage mein Bewusstsein erreichte.
Melanie lief nach draußen.
»Mama! Mama, wo bist du?«, rief sie. »Mama!«
Sie hielt inne und schaute sich um. Da entdeckte sie ihre Mutter. Sie saß unter dem Birnbaum, den Blick zum Himmel gewandt. Langsam ging Melanie über die Wiese und sank still neben Franziska auf die Knie.
Sie ließ mich fallen, um ihrer Mutter, der leise Tränen über die Wangen rollten, tröstend übers Haar zu streichen.
Die
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