Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Bär. Ein Spielzeug. Ein schlechter Ersatz.
Und nachdem ich in der Vitrine gelandet war, nicht mal mehr das.
Als das Feuer um mich herum tobte, meldete sich jedoch der Überlebenswille. Und zwar deutlich. Ich wollte nicht verbrennen.
Plötzlich hörte ich eine Stimme.
»Monsieur Brioche! Monsieur Brioche! Wo sind Sie? Es brennt!«
Es war ein Mädchen, das dort rief, eindeutig. Doch ich kannte die Stimme nicht.
»Hallo, Monsieur Brioche! Sie müssen die Feuerwehr rufen! Der Wald brennt!«
Keine Antwort. Die Tür flog auf, und dort stand sie: einen Meter sechsundfünfzig groß. Die Beine steckten in einer kurzen, weißen Hose, darüber trug sie ein blaues Blüschen mit Puffärmeln, und die glatten, dunklen Haare waren in einer runden Linie geschnitten, als hätte jemand dem armen Kind einen Topf auf den Kopf gesetzt und rundherum gekürzt. Doch in ihrem Gesicht lag Unerschrockenheit und Mut. Die blauen Augen waren entschlossen, der kleine Mund ebenso.
Dieses Mädchen war eine Heldin, das erkannte ich sofort. Aber würde sie auch meine Heldin werden? Das war die Frage. Die Hitze nahm zu, jede Sekunde zählte – und das nicht nur für mich, sondern auch für diese kleine Fremde.
Du, beeil dich! Hol mich hier raus, und dann nichts wie weg!
Sie hob ihre dünne Bluse und hielt sie sich vor Mund und Nase. Rauch füllte den ganzen Raum. Sie schaute sich rasch um. Da entdeckte sie das Telefon. Es stand nicht weit von mir entfernt. Sie rief noch einmal:
»Monsieur Brioche! Lucille!«
Dann holte sie tief Luft, rannte durch den Raum und hob den Hörer ab. Hektisch wählte sie.
»Papa! Papa!«, schrie sie in den Hörer. »Das Gut von Monsieur Brioche brennt. Es ist keiner da!«
Dem armen Jules Marionnaud muss der Schreck ordentlich in die Glieder gefahren sein, als er begriff, dass seine kleine Tochter sich mitten in einem flammenden Inferno aufhielt. Isabelle warf den Hörer auf die Gabel, und im gleichen Moment hielt das Schicksal mal wieder seine Hand schützend über mich. Die Vitrine hatte Feuer gefangen und neigte sich unendlich langsam zur Seite, während sich die wenigen Bücher, die auf dem Regalbrett unter mir standen, in Asche verwandelten.
Ich gebe es zu: Ich hatte Angst. Einen nicht weiter definierbaren Widerwillen, hier und jetzt die Lichter auszuknipsen. Eine Art Trotz.
Vielleicht verlor ich deshalb das Gleichgewicht. Ausschließen möchte ich das nicht. Als die Vitrine krachend zusammenbrach, polterte ich direkt vor Isabelles Füße.
Heb mich auf! Los, kleines Mädchen, heb mich auf.
Sie hob mich auf – ohne nachzudenken. Dann rannte sie hinaus und lief so schnell sie ihre kurzen Beine trugen den Hügel hinunter, den Pfad zwischen den Reben entlang zurück in ihr Heimatdorf, den kleinen Ort Fleurie, und blieb erst stehen, als sie ihren Vater entdeckte, der ihr mit den anderen Männern der freiwilligen Feuerwehr im Löschwagen entgegenkam.
Es mag zynisch klingen, aber der Brand auf dem Weingut Brioche (für den der Alte übrigens nichts konnte, in der Zeitung stand, ein Waldbrand habe unerbittlich das gesamte Gut verschlungen), war für mich der größte Glücksfall der Geschichte. Meiner Geschichte. Meines Lebens. Ich kam zu Isabelle.
Isabelle. Wenn ich an sie denke, ergreift mich eine Welle von Wärme und Zärtlichkeit.
Sie hat länger zu mir gehalten, als irgendein anderer Mensch. Zweiundzwanzig Jahre, um genau zu sein. Ich kannte sie als Kind, als Jugendliche und als Erwachsene, als Tochter und als Mutter. Ich wünschte, ich hätte mit ihr alt werden können. Zu gerne wüsste ich, wie sie heute aussieht, über sechzig. Sicher ist ihr Haar grau geworden. Vielleicht hat sie auch etwas von ihrem Übermut eingebüßt, doch ihre wilde Entschlossenheit wird ihr nicht abhandengekommen sein. Diese Entschlossenheit, die ihr so manches Mal trefflich im Weg stand und sie doch immer an ihr Ziel brachte.
Ziele hatte sie einige, und schon von klein auf hatte sie keine Probleme, sie zu benennen. Jedes einzelne wurde mir erklärt, detailreich auseinandergesetzt und mit mir abgestimmt, auch wenn ich, wie immer, keinen Einspruch erhob.
»Ich werde die Beste im Rechnen«, sagte sie, als sie elf war, und zählte beim Hüpfekästchen laut zusammen, was ihr in die Quere kam. Doch das Teilen lag ihr nicht.
»Ich werde so gut wie Margot Fonteyn«, sagte sie, als sie sechzehn war, und übte bis spät in die Nacht Ballettpositionen, doch die Tutus gefielen ihr nicht.
»Ich werde als erste den Mond betreten«,
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