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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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zuvor bei einem Autounfall in Amerika ums Leben gekommen war. Isabelles ältere Schwester Marilou hatte sich am Nachmittag weinend in ihrem Zimmer eingeschlossen und verkündet, sie wolle nicht mehr leben, wenn James wirklich tot sei. Ich weiß nicht, was es mit diesem James auf sich hatte. Er scheint ein Filmstar gewesen sein, den Marilou anbetete, denn das war zu jener Zeit ihre Hauptbeschäftigung. Sie betete Filmstars an, blätterte mit verträumtem Blick in Modeblättern aus Paris, in denen Petticoats und andere Kleider abgebildet waren, und schwärmte von Pierre, dem Sohn des Bürgermeisters.
    »Du spinnst ja«, sagte Michel, der älteste Spross von Jules und Hélène, zu seiner zwei Jahre jüngeren Schwester. »So ein Drama zu veranstalten wegen diesem Spinner. Guck dir doch mal seine Frisur an. Elvis, das ist der einzig wahre Star!«
    »Sei still, du hast doch gar keine Ahnung. Wer will denn diese komische Musik hören? So ein albernes Rumgehopse. James hatte Klasse. Er hatte Tiefgang und echte Gefühle! Das wirst du natürlich niemals verstehen. Ich wünschte, ich wäre tot, dann wäre ich an seiner Seite und müsste mich nicht mit solchen oberflächlichen Idioten wie dir abgeben.«
    »Kinder, jetzt reicht es! Rede nicht so einen Unsinn, Marilou. Und du, Michel, lass deine Schwester in Ruhe!«, fuhr Hélène dazwischen.
    Isabelle und ich saßen auf dem Sofa und sahen von einem zum anderen. Wir interessierten uns weder für diesen James noch für diesen Elvis, doch es war immer wieder lehrreich, den beiden älteren Geschwistern beim Streiten zuzusehen. Anfangs war mir das sehr unangenehm, denn ich verabscheute Streit (und tue es bis heute), doch mit der Zeit erkannte ich den Unterhaltungswert dieser Auseinandersetzungen.
    »Werde erst mal erwachsen, Schwesterchen, dann unterhalten wir uns über echte Gefühle«, stichelte Michel weiter.
    »Wenn ich erwachsen bin, sitzt du schon längst im Rollstuhl!«
    Das saß.
    Marilou wusste genau, dass sie in die richtige Kerbe getroffen hatte. Hélène hatte jedes Mal fürchterliche Angst, wenn Michel seine Vespa bestieg. Es war eine Menge Überzeugungsarbeit nötig gewesen, ehe er sein Erspartes in den Kauf eines Rollers investieren durfte.
    »Das sagt Maman auch«, schob Marilou noch triumphierend hinterher.
    Gequält sah Hélène ihren Sohn an.
    Michel ging auf seine Schwester los.
    »Du gemeines Stück«, rief er zornig und ergriff ihren Zopf.
    »Ach, und das nennst du erwachsen?«, kreischte Marilou. »Seit wann verprügeln erwachsene Männer ihre kleine Schwester?«
    Dann nahm sie Reißaus, und Michel rannte ihr nach.
    Isabelle war von dem Verhalten ihrer Geschwister nicht im Mindesten beeindruckt.
    »Sie stellt sich immer so an. Marilou geht sicher selbst einmal zum Film, so theatralisch, wie sie sich benimmt. Weißt du, Mon ami, Papa sagt, so sind Mädchen mit sechzehn. Aber ich will so nicht werden, wirklich nicht.«
    Keine Sorge, du wirst sicher nicht so ein Filmsternchen.
    Diesen Ausdruck hatte ich aufgeschnappt, als Hélène sich am Gartenzaun bei der Nachbarin das Herz ausgeschüttet hatte, und er hatte mir sofort gefallen. Marilou war flatterhaft wie ein Filmsternchen, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter. Hélène hatte ein ausgeprägtes Talent, die Dinge beim Namen zu nennen, was mir an sich gefiel. Doch es hätte mir besser zu denken geben sollen, denn sie hatte ebenso ausdrücklich gesagt, ich röche. Daran war eigentlich so gut wie nichts misszuverstehen.
    Am Tag also nach Marilous verzweifeltem Wunsch zu sterben, kam Hélène in Isabelles Zimmer, um das Bett zu machen, und entdeckte mich sofort. Sie zögerte keinen Moment, ihren perfiden Plan in die Tat umzusetzen.
    »So, Mon ami, jetzt bist du fällig«, sagte sie und hob mich vom Kopfkissen. »Du stinkst ja wirklich wie ein ganzes Weinfass. Was haben sie denn mit dir gemacht? Hat der alte Brioche versucht, dich in Beaujoulais zu ertränken?«
    Sie lachte.
    Das ist nicht komisch.
    Sie trug mich ins Badezimmer und ließ einen Waschzuber volllaufen. Mir schwante Schreckliches.
    »Wollen wir doch mal sehen, ob wir dich nicht sauber kriegen.«
    Nein!
    Als sie meinen Kopf unter Wasser drückte, stiegen Luftblasen an die Oberfläche. Ich sah es genau. Ich würde ertrinken.
    Vor meinem inneren Auge zog in schnellen Bildern mein Leben vorüber, doch ehe ich sterben konnte, war ich wieder an der Luft. Muss ich noch deutlicher werden? Ich bin traumatisiert, schlicht und ergreifend.
    Hélène schäumte mir das Fell

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