Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
irgendwie sagen sie dabei immer nur dasselbe.«
Liebe ist eine Sprache, in der ohne Worte alles gesagt werden kann, Laura. Sie haben diese Sprache verlernt, sie suchen danach. Das ist nicht einfach.
Signore Simoni trat aus dem Schatten. Er hielt eine Flasche Orangina in der Hand, ein blauer Strohhalm wippte einladend in der Öffnung auf und ab.
»Ciao, kleine Laura«, sagte er. »Willst du etwas trinken?«
Laura nickte.
»Sprichst du mit Paolo?«, fragte er.
Sie nickte wieder.
»Es ist gut, wenn man jemandem zum Reden hat«, sagte er.
»Wissen Sie, was ein Egotrip ist?«, fragte sie unvermittelt und schaute fragend zu ihm auf.
Er sah sie ratlos an.
»Mi dispiace«, sagte er und zuckte bedauernd die Achseln. »Keine Ahnung.«
»Ist auch egal«, sagte sie und schwieg.
Ich glaube, ich hörte aus Lauras Mund keinen Satz häufiger als »Mir doch egal«.
»Willst du nach Hause?«
»Mir doch egal.«
»Willst du, dass ich dich ins Bett bringe?«
»Mir doch egal.«
»Willst du, dass ich aus dem Fenster springe?«
»Mir doch egal.«
Dabei war es ihr keineswegs egal. Aber sie wusste genau, dass ihre Eltern nicht fragten, weil sie wirklich an ihrer Meinung interessiert waren. Und ich konnte gut verstehen, dass man sich in solch einem Fall nicht die Mühe einer ernsthaften Antwort machte.
Laura war fast zwölf Jahre alt. Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, das zu glauben. Isabelle war in diesem Alter so anders gewesen, viel kindlicher, viel naiver, ebenso wie Melanie. Laura war schon fast in der Pubertät. Auf ihrer Nase sprossen kleine Pickel, und unter ihrer Bluse zeichneten sich schon winzige Brüste ab, trotzdem war ihr Gesicht noch rund und ihr Körper irgendwie unproportioniert. Sie war ein merkwürdiges Mädchen. Nicht schüchtern, aber doch still. Nicht ernst, aber doch nicht albern. Nicht schön, aber hübsch und einnehmend. Nicht frech, aber schlagfertig. Nicht rebellisch, aber trotzig.
Ich mochte Laura. Jedenfalls glaube ich, dass ich sie mochte. Vielleicht verwechsle ich auch Zuneigung mit Mitleid. Ich weiß es nicht. Ich mache Signora Simoni keinen Vorwurf, dass sie mich an Laura verschenkte. Sie konnte ja nicht wissen, wie sich die Dinge entwickeln würden.
Als die Abreise bevorstand, der Urlaub endgültig in die Hose gegangen war und die Hofmanns sich auf den Weg nach Olten in der Schweiz machen wollten, befand die Signora Lauras Freundschaft zu mir als so »dick«, dass sie mich an sie fortgab.
Im ersten Moment freute sich Laura, da bin ich mir sicher. Ich sah das Strahlen auf ihrem Gesicht, das Leuchten in ihren Augen. Und dennoch: Hätte ich mich noch mal eben entschuldigen können – ich wäre durch die Hintertür verschwunden (so, wie sie es in diesen Kriminalfilmen im Fernsehen immer tun). Ich ahnte, dass mich keine leichte Aufgabe erwartete.
Die Pensione Bencistà verschwand hinter der Straßenbiegung und damit auch die letzte Verbindung zu Isabelle, zu Gianni und Giulia – zu meinem alten Leben. Bis zum Schluss hatte ich tief im Inneren die Hoffnung gehegt, dass sie noch einmal zurückkehren würden, dass die Nostalgie sie wieder an diesen Ort zurückführen würde, wie es bei so vielen anderen Gästen der Fall gewesen war. Dass es ein freudiges Wiedersehen an der Rezeption geben würde. Doch sie waren nicht gekommen. Und jetzt reiste ich ab.
Ich kannte die Schweiz nur aus Erzählungen. Dort gibt es hohe Berge, mit Schnee bedeckte Gipfel, grüne Almen, viele Kühe und guten Käse, hatte Signore Simoni mal gesagt. Aber als wir ankamen, bezweifelte ich stark, dass Signore Simoni jemals in der Schweiz gewesen war.
Olten war ein kleines Städtchen, das aussah wie viele kleine Städtchen, durch die ich während all meiner Reisen gekommen war. Ich konnte keine Kühe ausmachen, und es war Hochsommer, von Schnee keine Spur.
Die Rückfahrt war überwiegend schweigend verlaufen, und es ist nett ausgedrückt, wenn man die Atmosphäre als sachlich beschreibt. Ab und an hatte Claire gefragt, ob jemand einen Apfel wolle, alle zweihundert Kilometer hatten sie angehalten, um auszutreten – die Gespräche waren allesamt rein pragmatischer Natur gewesen.
Ich saß auf dem Rücksitz neben Laura, die sich in einen Comic vertieft hatte, in dem lauter Enten die Hauptrolle spielten. Ich verstand nicht, was sie daran lustig finden konnte. Wieso las man Bücher, in denen sprechende Tiere die Hauptrolle spielten? Aber die Bilder waren bunt und Laura amüsierte sich über die Tollpatschigkeit der
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