Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Winkel dieser Welt. Nach Ruhe und Gelassenheit. Von beidem gab es hier reichlich.
Signore und Signora Simoni waren ein Paar nach meinem Gusto. Er war ein hochgewachsener Mann mit einer großen Nase und strapazierfähigem Gemüt, sie war eine kleine rundliche Frau mit hohem Durchsetzungsvermögen. Doch nicht selten gab ein Wort das andere und, wie es für die Italiener üblich war, ging es dabei nicht gerade leise zu. Sobald aber ein Gast in der Nähe war, versuchten sie sich gegenseitig dabei zu übertreffen, ihn zu verwöhnen.
Signore Simoni liebte es, Geschichten über das Haus zu erzählen.
»Dieses Gemäuer kennt unendlich viele Geschichten«, hörte ich ihn oft sagen. »Es ist ein uraltes Haus, wissen Sie. Schon die Medici hatte hier ihre Finger im Spiel. Nur die edelsten Leute haben im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert hier gelebt. Und was in den hundertfünfzig Jahren passiert ist, als sich die Nonnen von Sant’Anna al Prato hier verlustiert haben …« Er wedelte viel sagend mit der Hand und grinste verschlagen.
Ich liebte es, ihn erzählen zu hören. Ich liebte das geschäftige Geklapper aus der Küche und Signora Simonis fröhlichen Gesang. Ich mochte es, wenn der laue Sommerwind durch die offen stehende Haustür wehte, wenn einer der Hunde schnüffelnd hereinkam, die Nase hob und wieder ging. Ich mochte die Geräusche, die von der Terrasse heraufdrangen, Geräusche friedlichen Genießens, ab und zu unterbrochen von entzückten Ausrufen, wie schön der Blick sei, wie traumhaft die Aussicht, wie unglaublich das Panorama. Es war wirklich ein traumhafter Blick über die Stadt, die runde Kuppel des Doms, darum herum die roten verschachtelten Dächer und gelben Gemäuer der Florentiner Häuser. Ein großer Garten mit einer Pergola aus zart lila Flieder erstreckte sich unterhalb der Gebäude. Es gibt wahrlich schlechtere Orte für einen in die Jahre gekommenen Bären.
Niemand zog und zerrte an mir, niemand wollte getröstet werden. Ich war schon unzufriedener gewesen.
Aber meine Odyssee war noch nicht zu Ende. Es war noch nicht an der Zeit, den Dienst zu quittieren, und das bestimmte niemand Geringerer als Signora Simoni, die mich eines Tages einfach weiterverschenkte.
Kaum ein Gast übersah mich. Fast jeder hatte ein gutes Wort für mich, sah mich an und war bereits freudig gestimmt, noch ehe die Koffer ausgepackt waren.
Einmal betrat ein altes Ehepaar, das aus Massachusetts in Amerika angereist war (ich hörte an ihrem Akzent, dass sie Amerikaner waren), die Halle. Signore Simoni sah auf, um die Gäste zu begrüßen, doch sie standen einfach nur da und sahen mich an. Die alte Frau stützte sich auf einen Stock, ihr Kopf wackelte beständig leicht hin und her. Ihre violetten Haare waren toupiert.
»Erinnerst du dich an Davids Teddy, Honey?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete er. »Wie hieß er noch gleich?«
»Er hieß Hobster.«
»Das ist lange her.«
»Ja, Honey, das ist lange her.«
»Was wohl aus dem Bären geworden ist? Haben wir ihn weggeworfen?«, sagte er.
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Nein, wahrscheinlich hast du recht.«
»Aber dieser hier ist auch schön.«
Sie nickte, fasste mir kurz mit ihrer warmen, runzeligen Hand an den Fuß und wandte sich dann abrupt an Signore Simoni, lächelte geübt und rief aus:
»Was für ein entzückendes Fleckchen Erde! Beau – ty – ful!«
Ich hatte dem Dialog ergriffen gelauscht. Vielleicht würde Fritzi Rosner auch eines Tages so vor einem Schaufenster stehen und sagen:
»So einen hatten wir auch einmal, damals in den Fünfzigern.«
Auch an mich würde man sich erinnern. Und vielleicht würden sie auch ein wenig nachdenklich werden, so wie diese alten Leute.
Andere Gäste sagten nur Dinge wie: »Na, passt du auf, dass nichts passiert?« Oder: »Was für ein netter Bär, der ist aber schon alt, nicht wahr?« Oder: »Na, bist du der Bruder von Pu?«
Ich übte mich in Zurückhaltung, lernte, den einzelnen Kommentaren nicht zu viel Gewicht beizumessen. Ich wurde Beobachter und bekam viel von der Welt zu sehen. Ja, ich würde sogar wagen zu behaupten, dass ich in diesen Jahren, die ich neben der Messinglampe verbrachte, die Welt am besten kennenlernte.
Ich sah kleine Damen mit großen Gesten und einem kleinen Hündchen unter dem Arm; vornehme Herren mit lächerlichem Gehabe und glitzernder Geldklammer (in der sich unter vier oder fünf Scheinen blankes Papier versteckte). Ich sah Frauen mit dürren Händen und schlaflosem Blick,
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