Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
sich niemand die Mühe gemacht, mir einen Namen zu geben. Ich war da, das genügte.
»Paolo«, hörte ich da die Stimme der Signora.
Paolo? Na ja. Das war weder besser noch schlechter als all die anderen Namen, die ich in den vergangenen sechzig Jahren geführt hatte.
Das Mädchen ließ mich vor Schreck fallen. Ich kann sie verstehen. Die Signora hatte ein Talent, plötzlich wie aus dem Nichts aufzutauchen. Das Mädchen drehte sich um und rannte hinaus.
»Aspetta«, rief die Signora. »Wie heißt du denn?«
»Laura«, rief das Mädchen und verschwand ins Freie.
Laura wählte mich als Freund, weil Neronimo zu unzuverlässig war, davon bin ich heute überzeugt. Und sie brauchte dringend einen Freund, der immer für sie da war, denn ihre Eltern waren, mit Verlaub, nicht zum Aushalten. Und das lag nicht daran, dass sie Schweizer waren, sondern daran, dass sie ununterbrochen stritten. Es war kein lautes Geschrei wie bei Michel und Marilou Marionnaud. Es gab keine Schläge wie bei den Brioches. Es waren kleine Sätze, manchmal nur Worte, die wie Pfeile durch die Luft flogen und direkt ins Herz des anderen zielten. Sätze wie:
»Was habe ich auch anderes von dir erwartet?«
»Typisch.«
»Wenn du meinst.«
»Dann geh doch.«
Noch schlimmer als die Pfeile aber war das Schweigen, das sie umgab wie eine Eiszeit. Sie strahlten eine solche Kälte aus, dass andere Gäste der Pension eine Gänsehaut bekamen, wenn sie in ihrer Nähe saßen. Das sagte jedenfalls die Signora, als sie kopfschüttelnd neben ihrem Mann stand und die drei Problemfälle beobachtete. Es war unmöglich zu übersehen, was sich zwischen Claire und Bernard Hofmann abspielte, und keinem entging, dass sie Laura als Alibi für eine heile Familie wie einen Schild vor sich herschoben.
Die Schönheit des Ausblicks, die Ruhe des Ortes und die Freundlichkeit der Simonis konnte die Hofmanns nicht beeindrucken. Als glaubten sie, man würde sich besser fühlen, wenn der andere sich schlechter fühlte, schoben sie sich den Schwarzen Peter hin und her. Es war wie dieses erbitterte Tennismatch zwischen John McEnroe und Bjørn Borg, das die Simonis am Fernseher verfolgt hatten: Mit enormer Schlagkraft wurde der Ball hin und her gespielt. Keiner gab einen unnötigen Punkt verloren.
»Laura, schau, Papa und ich müssen noch etwas besprechen«, sagte Mama Claire am zweiten Morgen. »Kannst du nicht ein wenig hinausgehen und spielen?«
»Ich dachte, wir machen Urlaub«, maulte Laura.
»Ja, heute Nachmittag gehen wir ins Museum, versprochen«, antwortete die Mutter.
»Urlaub, Mama. Ich will nicht ins Museum. Ich will schwimmen gehen.«
»Das sehen wir nachher, ja? Jetzt gib uns eine Stunde Zeit.«
»Für mich habt ihr nie Zeit.«
Laura ließ ihre Mutter stehen, lächelte Signora Simoni zu und fragte:
»Kann ich mit Paolo spielen?«
»Si certo, kleine Laura. Es ist gut, wenn er mal an die frische Luft kommt.«
Sie hatte recht, ich war schon lange nicht mehr draußen gewesen.
»Danke. Mille grazie.«
»Geh schon!«, sagte Signora Simoni. »Viel Spaß!«
Sie sah uns mit gerunzelter Stirn hinterher.
»Ich glaube, Mama und Papa lassen sich scheiden«, sagte Laura und sah mich aus ihren hellblauen Augen traurig an. Wir hatten uns einen schattigen Platz unter der Pergola gesucht.
»Sie streiten ja nur noch. Und dann glauben sie, ich kriege nichts mit. Bei Janines Eltern war das genauso.«
Sie schüttelte mich.
»Sie sollen sich aber nicht scheiden lassen.«
Ich sah sie fest an. Die Lage war ernst.
Isabelle und Gianni hatten einander versprochen, zusammenzubleiben, bis dass der Tod sie schied. Marlene und Friedrich hatten einander dasselbe versprochen, und der Tod hatte kein Einsehen gehabt. Doch offenbar war dieses Versprechen nicht so leicht zu erfüllen. Es mag sich einfältig anhören und vielleicht auch naiv, aber der Gedanke, dass eine Familie, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr zusammen wollte, war mir in dieser Deutlichkeit noch nie gekommen. In meinem bisherigen Leben war es stets darum gegangen, die Familie zusammenzuhalten, die Menschen, die man liebte, wiederzufinden und zusammen glücklich zu werden. Mir dämmerte, dass Liebe kein unveränderlicher Zustand war, keine Selbstverständlichkeit. Eine aufrüttelnde Erkenntnis.
»Mama hat gesagt, sie muss hier raus, und sie weiß nicht mehr, wer sie ist, und dann hat Papa gesagt, wenn sie so auf dem Egotrip ist, kann sie ja gehen.«
Das hörte sich schlimm an.
»Sie reden und reden, aber
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