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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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Männer mit Zuckungen im Augenwinkel und großem Durst. Ich machte die Bekanntschaft von alten Leuten, die einander mit Leidenschaft ansahen, und von jungen Leuten, die einander unsicher an den Händen hielten. Ich lernte graue Mäuse und Paradiesvögel kennen; eine Künstlerin, die jeden Morgen zum Frühstück vier Eier und eine Tomate aß, einen Schriftsteller, der nur mit Blick auf den Sonnenuntergang schreiben konnte, und einen anderen, der einen ungemütlichen Stuhl brauchte; eine gebrochene Tänzerin mit schmerzverzerrtem Gesicht, einen englischen Witwer, der sich in unsere Köchin verliebte und sie kurzerhand mit nach Brighton nahm, sowie eine australische Millionärin, die einen geeigneten Erben suchte.
    Bald schon spielte ich im Stillen mein eigenes kleines Ratespiel, denn ich hatte herausgefunden, dass man Menschen ansehen konnte, wo sie herkamen. Nicht immer, aber doch mit erheblicher Treffsicherheit konnte ich bestimmen, woher unsere Gäste stammten: Amerikanische Frisuren waren meist hochtoupiert und mit Haarspray festzementiert. Italienerinnen trugen riesige Sonnenbrillen. Engländer trugen Tweedjacketts und Franzosen weiße Hemden mit offenem Kragen. Schwedinnen hatten blonde Zöpfe, spanische Männer ölten ihr Haar ein und ließen ihre Frau im Auto warten, deutsche Männer hingegen schickten ihre Frau voraus und warteten selbst im Wagen. Dänen waren bescheiden und Holländer braun gebrannt. Die Schweizer – ja, wie waren die Schweizer? Ich würde sagen, sie waren am meisten sie selbst.
    Es war im Jahr 1981, als die Familie Hofmann in der Pensione Bencistà Quartier bezog, und ich konnte beim besten Willen nicht sagen, woher sie stammten. Sie sahen ein bisschen deutsch aus, waren aber zu mondän. Sie sahen ein wenig italienisch aus, waren aber zu beherrscht. Sie sahen ein wenig skandinavisch aus, waren jedoch zu langsam. Aber egal, woher sie kamen, eines war sofort klar. In dieser Familie hing der Haussegen mehr als schief.
    »Guten Tag, wir haben reserviert«, sagte die Frau.
    »Auf den Namen Hofmann«, sagte der Mann. »Mit einem f.«
    »Buongiorno, Signori, herzlich willkommen, einen Moment bitte, ich bin gleich für Sie da«, sagte Signore Simoni und verschwand.
    »Das hatte ich mir aber ganz anders vorgestellt«, sagte die Frau und sah ihren Mann herausfordernd an.
    Jetzt wusste ich, dass sie aus der Schweiz kamen. Sie sprach eine Art Deutsch mit eigentümlichem Singsang, der immer wieder von kratzenden Halsgeräuschen unterbrochen wurde.
    »Wir wollten doch etwas Modernes«, fuhr sie fort.
    »Ich dachte, es wäre doch schön, wenn wir es auch mal ein bisschen ruhig hätten«, erwiderte er.
    Ruhig ist es hier. Zumindest war es hier ruhig, bis ihr kamt.
    »Ruhig. Laura wird sich zu Tode langweilen und mir den letzten Nerv rauben.«
    »Warum sind wir überhaupt gefahren, wenn du alles so negativ siehst?«
    »Ich wollte mit meiner Familie Urlaub machen, willst du mir das vorwerfen?«
    »Du willst dein schlechtes Gewissen beruhigen. Wegen Laura. Sonst nichts.«
    »Also, wer sieht denn alles so negativ?«
    »Hör auf jetzt, nicht vor den Leuten.«
    »Hier ist niemand.«
    »Du kannst dir ja die Zimmer zeigen lassen. Wenn es dir nicht gefällt, gehen wir woanders hin. Ich warte draußen.«
    Er drehte sich um und verschwand.
    Oh je. Das sah nach Ärger aus.
    »Was ist das hier – ein Wartezimmer?«, rief die Frau und machte so ihrer Wut Luft.
    »Non, Signora, es ist eine mit amore geführte Pension. Wenn Sie mir folgen wollen. Wir haben das schönste Zimmer für Sie. Wo ist denn Ihr Mann?«
    »Der kommt gleich. Wir gehen voraus.«
    Ich sah, wie Signore Simoni ihr einen kurzen fragenden Blick zuwarf, dann führte er sie ins Nebengebäude.
    Ein Mädchen tauchte in der Türöffnung auf. Vorsichtig steckte sie den Kopf herein, beugte sich dann zu Kater Neronimo hinunter, der ihr um die Beine strich. Sie streichelte ihm über den Kopf.
    Katzen. Erst biedern sie sich an, und dann werden sie auch noch gestreichelt. Verdient haben sie es nicht. Ich sah skeptisch zu ihr hinüber.
    »Mama?«, rief das Mädchen. »Mama?«
    Sie kam an die Rezeption, spähte über die Theke und ließ die Hand über das dunkle Holz wandern, bis sie mein Bein erreichte. Sie zog mich zu sich herunter und schaute mich prüfend an.
    »Come si chiama ?«, fragte sie in angestrengtem Italienisch.
    Wie hieß ich eigentlich? Ich war so lange Mon ami Marionnaud gewesen, dass Henry fast in Vergessenheit geraten war. Seit ich hier saß, hatte

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