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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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wachsendem Entsetzen.
    Ich fürchtete, sie würde auch mir zuleibe rücken. Mein Alter machte sich bemerkbar – damals schon! Ich hatte ja keine Ahnung, was noch alles auf mich zukommen würde. Ich war sechzig und dachte, ich hätte eine Menge erlebt. Mein Leben bei den Simonis war abwechslungsreich und friedlich gewesen, und wäre es nach mir gegangen, hätte ich gerne noch ein paar Jahre die Gäste der Pension bestaunt. Doch scheinbar hält das Leben immer neue Überraschungen für mich bereit.
    Laura las keine Comics mehr, sondern kaufte sich von ihren paar Franken Taschengeld Zeitschriften, die sie unter ihrer Matratze versteckte und nur hervorholte, wenn keiner zu Hause war. Die Drei-Fragezeichen-Kassetten, die Bernard pflichtschuldig nach jeder Vortragsreise ablieferte, wurden mit der Radiohitparade überspielt. Jeden Tag hörte Laura mindestens zehnmal hintereinander ein Lied, in dem eine Sängerin mit nasaler Stimme neunundneunzig Luftballons in den Himmel schickte, dabei lag Laura auf dem Bett und starrte aus dem schrägen Dachfenster.
    Mit ihrer Freundin Janine, die schon dreizehn war, aber dieselbe Klasse in der Kantonsschule besuchte, schloss sie sich in ihr Zimmer ein. Sie setzten sich im Schneidersitz auf den blauen Teppichboden und machten ernste Gesichter. Ich sperrte die Ohren auf.
    »Bist du sicher, dass sie sich scheiden lassen wollen?«, fragte Janine.
    »So sicher, wie der Becksteiner eine Glatze hat.«
    »Hm. Hast du versucht, was dagegen zu unternehmen?«
    »Wie denn, sie sind ja nie da.«
    »Dann musst du dir etwas einfallen lassen, damit sie sich Sorgen machen. Eine Krankheit wäre nicht schlecht. Das hat damals bei mir auch geholfen. Jedenfalls vorübergehend.«
    »Dann geben sie mir Antibiotika und gehen zurück ins Krankenhaus.«
    »Dann was Schlimmeres, oder?«
    »Aber was denn?«
    »Selbstmord vielleicht.«
    Bist du verrückt?
    »Spinnst jetzt?«
    »Na ja, du darfst natürlich nur so tun …«
    »Das trau ich mich nicht.«
    »Wir können es ja auf anderem Weg versuchen. Eltern machen sich über alles Mögliche Sorgen.«
    »Ja, nur nicht über mich.«
    »Das wollen wir erst mal sehen.«
    Es ist erstaunlich, welche Kräfte Kinder mobilisieren können, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben. Ich hatte mit Lilli und Leo, Robert, Melanie und Isabelle ausreichend Erfahrung gemacht – dachte ich. Doch Laura setzte neue Maßstäbe.
    Als Claire an diesem Abend nach Hause kam, hing Laura betont gelangweilt auf dem riesigen weißen Ledersofa im Wohnzimmer. Der Fernseher brüllte. Sie schaute sich eine neue amerikanische Serie im Fernsehen an, in der Leute große Cowboyhüte trugen und eine Intrige nach der anderen spannen, dazu hatte sie sich eine Tüte Chips aus dem Vorratsschrank geholt und deren Inhalt großzügig über den Glastisch verteilt.
    Ich war inzwischen fast dauerhaft ins Wohnzimmer umgezogen, nachdem ich im Kinderzimmer keinen rechten Platz gefunden hatte und keinen Zweck erfüllte – jedenfalls nicht zum Spielen. Laura benutzte mich vornehmlich, um ihre Wut an mir auszulassen, und dafür trug sie mich dann manchmal hin und her. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet an mir. Aber wenn es darum ging, sich über ihre Eltern zu beschweren, über ihre Freundinnen oder über die Schule, dann musste ich herhalten. Mal ehrlich, ist das eine Art? Ich war gerne bereit, jeden zu trösten, der unglücklich war. Ich konnte viele Tränen aufnehmen, aber es war unbestreitbar besser gewesen, unbeachtet an Melanies Hand zu baumeln, als andauernd angemeckert zu werden. In mir kämpften Widerwille und Mitleid.
    Claire entfuhr ein Schrei des Entsetzens, als sie das Wohnzimmer betrat. Ich konnte sie verstehen. Lauras schwarz gefärbte Haare waren gewöhnungsbedürftig, ebenso wie die dunkel umrandeten Augen und die Löcher, die sie in ihre Jeans geschnitten hatte. Sie war kaum wiederzuerkennen. Das Schlimmste hatte Claire noch gar nicht bemerkt, als sie schon schrie:
    »Bist du jetzt komplett durchgedreht? Was fällt dir eigentlich ein?«
    Laura schwieg.
    »Willst du uns vorzeitig ins Grab bringen? Ist es das, was du willst? Dann mach nur weiter so. Herzlichen Dank auch.«
    Laura schwieg weiter. Dann krabbelte die Ratte aus ihrem Pullover hervor.
    Die arme Claire.
    Ihre Gesichtszüge entgleisten. Sie erstarrte und rang nach Luft.
    »Nimm das Vieh weg. Du nimmst sofort das Vieh weg. Raus damit, raus!«
    Claires Stimme brach, und Laura ließ das kleine hässliche Tier mit dem langen nackten Schwanz

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