Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
waschen, morgen muss ich doch wieder in die Klinik.«
»Ihr seid blöd. Ihr habt nie Zeit«, rief das Mädchen in einem plötzlichen Anfall von Zorn und schleuderte eine Puppe in Richtung ihrer Mutter, die es gerade noch rechtzeitig schaffte, die Tür zu schließen. Barbie fiel polternd zu Boden.
Aua.
Laura sprang auf und trat noch einmal dagegen, dann hob sie sich mich auf und schimpfte mich an:
»Nie haben sie Zeit. Entweder sie sind im Krankenhaus, oder sie sind müde und streiten.«
Das war es also: keine Langeweile, sondern Einsamkeit.
Es fiel mir schwer, zu begreifen, was hier vor sich ging. Eine Familie wie diese war mir noch nicht untergekommen. Die Hofmanns hatten alles, was das Herz begehrte. Ein großes Haus, ein großes Auto, einen großen Fernseher, einen großen Bekanntenkreis. Laura ertrank in Spielsachen, Claire in der Auswahl ihrer Kleider und Bernard in seiner Hausbar. Doch so sehr sie es auch glauben wollten – all das konnte sie nicht glücklich machen.
Wie ferngesteuert folgten Bernard und Claire ihren über Jahre eingeübten Routinen und versuchten alles, um den Schein einer zufriedenen Familie aufrechtzuerhalten. Sie wies die Zugehfrau an, er kümmerte sich um die Stromrechnung. Sie räumte den Tisch ab, er die Spülmaschine ein. Wenn man nicht genau hinsah, hätte man glatt darauf reinfallen können, so geschickt versteckten sie ihre Verletzungen hinter Floskeln, ihre Ängste hinter leeren Phrasen und ihre Wünsche hinter blindem Aktionismus. Doch sie waren verlorener als alle Menschen, bei denen ich zuvor gelebt hatte.
Bernard suchte Zuflucht in seiner Arbeit im Kantonsspital. Er leitete die Pädiatrie. Das war die Station, auf der kranke Kinder behandelt wurden, erklärte er Laura. Tag und Nacht war er auf Abruf bereit, Menschenleben zu retten. Er war Arzt aus Leidenschaft, seine feingliedrigen Hände schnitten Kinderbäuche auf und nähten sie wieder zu, richteten abstehende Ohren, gebrochene Nasen und abgebissene Zungenspitzen. Er nahm sich für jeden seiner kleinen Patienten alle Zeit der Welt – vorausgesetzt, seine Vortragsreisen, Fortbildungen und Kongresse ließen das zu.
Claire war berühmt für ihre Fertigkeiten in der Chirurgie. Sie konnte alle Knochen, die es in einem menschlichen Körper gab, zusammenflicken. Das waren nicht wenige, wie mir Laura erläuterte, als wir mal wieder Krankenhaus spielten und ich das todkranke verwaiste Kind mimen musste.
In ihrer spärlichen Freizeit betätigte sich Claire als Vorsitzende eines Komitees für Humanitäre Hilfe und war Schriftführerin im Frauenverein für Friedensbewegung, außerdem leitete sie ehrenamtlich einen Dritte-Welt-Laden. Darunter konnte ich mir nichts vorstellen. Ich hatte immer gedacht, es gäbe nur diese eine Welt, und die schien mir schon unübersichtlich genug.
Die beiden wurden geehrt und belobigt für ihren Einsatz und ihre Arbeit. Vor ein paar Jahren noch hatten sie Seite an Seite gestanden, gelächelt und von ihrem Ideal gesprochen, die Welt ein kleines Stück lebenswerter zu machen und Kindern zu helfen. Was war aus diesem Ideal geworden? Während Laura immer verzweifelter um Aufmerksamkeit rang und wie ein Ertrinkender auf hoher See vergeblich rief und winkte, waren ihre Eltern nur noch damit beschäftigt, sich selbst zu retten.
Ob es schrecklich war? Man hätte genauso gut versuchen können, es sich in einem Eisschrank gemütlich zu machen. Es fühlte sich an, als säßen wir alle auf einer Zeitbombe, die laut unter uns tickte. Und es gab nur zwei Menschen, die sie entschärfen konnten.
Wenn sie abends alle ganz erschöpft waren vom beständigen Bemühen, die Fassade zu wahren, bröckelten manchmal kleine Stückchen aus dem perfekten Gemäuer und gaben den Blick frei auf das geballte Unglück, das sich dahinter verbarg.
»Wir können so nicht weitermachen, Bernard«, sagte Claire dann leise. »Ich kann nicht mehr.«
Und er nickte und sah sie traurig an.
»Was ist bloß aus uns geworden?«, fragte er dann.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Und sie sahen einander an, müde und unglücklich. Fassungslos betrachteten sie die Reste ihrer Ehe. Dann erhob sich Bernard und sagte:
»Lass uns ein anderes Mal drüber reden.«
Und sie verschoben die Entschärfung ihrer Bombe. Es schien ihnen wohl zu gefährlich.
Laura wurde zwölf und schnitt den Barbies die Haare ab, bohrte ihnen Löcher in den Kopf und sagte: »Ihr seid hässlich.«
Ich beobachtete das Geschehen mit
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