Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
in aller Seelenruhe in ihrem Ärmel verschwinden.
Laura machte es mir nicht leicht, zu ihr zu halten. Die Anschaffung der Ratte ging eindeutig zu weit. Mit Horror erinnerte ich mich an die schrecklichen Nächte im Vorratskeller der Bouviers, an die spitzen Zähne der Ratte, die sich in der Dunkelheit in mein Fell gebohrt hatten. Ich betete, sie würde das Tier weit von mir entfernt aufbewahren.
»Reg dich ab«, sagte Laura trocken zu ihrer Mutter – sie hätte ebenso gut mich meinen können – und erhob sich. »Ich geh zu Janine. Ciao.«
»Du gehst nirgendwo hin. Du erklärst mir jetzt erst mal, was dieses Affentheater soll.«
»Erklär du mir doch, was dein Affentheater soll«, erwiderte Laura und ging mit festem Schritt aus dem Zimmer.
Ich bin sicher, dass ihre Gelassenheit nur vorgetäuscht war, mit Sicherheit klopfte ihr das Kinderherz vor Aufregung bis zum Hals. So etwas hatte sie noch nie gewagt.
Claire sank auf das Sofa und fegte mit der Hand geistesabwesend ein paar Chips zusammen. Ich sah sie an. Sie konnte einem leid tun. Sie versuchte so krampfhaft, alles richtig zu machen, und trotzdem ging einfach alles schief. In diesem Moment hätte sie meinen Trost gut gebrauchen können. Doch sie war keine, die sich einen Teddy an die Brust drückte, wenn sie verzweifelt war.
»Laura flippt aus«, sagte sie, kaum dass Bernard nach Hause gekommen war.
»Was soll das heißen, sie flippt aus?«
»Sie hat sich völlig verunstaltet, hat ihre Kleider zerschnitten und sich eine Ratte besorgt.«
»Ich hoffe, du hast ihr die Meinung gesagt.«
»Wieso ich? Wieso soll immer ich Laura die Meinung sagen? Damit du wie der gute, liebe Vater dastehen kannst. Nein, mein Lieber. Sie ist auch deine Tochter.«
»Das ist mir sehr wohl bewusst. Ich bin ja auch nicht derjenige, der die Familie aufgeben will.«
»Ach, daran bin ich nun auch noch schuld? Du bist doch nie zu Hause!«
»Was soll ich auch hier? Mich ankeifen lassen?«
»Wenn du deine Frau schon nicht erträgst, könntest du dich zum Beispiel um deine Tochter kümmern, wie wär’s damit?«
»Du erträgst mich nicht, so ist es doch. Du findest doch, dass ich alles falsch mache. Selbst, wenn ich eine Glühlampe einschraube, hast du noch was daran auszusetzen.«
»Du lenkst vom Thema ab. Aber das ist ja auch nichts Neues. Es geht hier um Laura.«
»Laura ist dir doch egal. Du hast nur Angst, dass sie etwas tut, das deinem Image schadet. Arzttochter mit Ratte – mein Gott, wie schrecklich.«
Sein Tonfall ging mir durch Mark und Bein.
»Du kannst nur noch zynisch sein. Zu anderen Gefühlen bist du gar nicht mehr fähig.«
»Jetzt lenkst du vom Thema ab. Wenn dich stört, dass Laura eine Ratte hat, dann kannst du es ihr ja verbieten. Mir macht es nichts aus.«
»So, von dir aus kann sie also verwahrlosen? Als Nächstes kaufst du ihr dann Drogen, ja?«
Das Telefon klingelte. Wie eine Alarmsirene übertönte das Signal den Streit der beiden. Wie eingefroren verharrten sie. Der letzte Satz hing noch in der Luft. Sie starrten einander an, als warteten beide darauf, wer sich als Erster rühren würde.
Ich war erleichtert, dass keiner mehr schrie. Merkten sie denn nicht, dass sie sich im Kreis drehten? Es ging immer nur darum, dem andern die Schuld zu geben. Konnte es denn einen Schuldigen geben? Sie hatten doch beide vergessen, wie sich Liebe anfühlt.
Claire ging zu dem grünen Telefonapparat, der auf einem kleinen runden Beistelltischchen neben der Tür stand, und hob ab.
»Hofmann«, meldete sie sich und lauschte.
»Ja«, sagte sie dann. »Danke. Danke für den Anruf … nein, das ist schon in Ordnung … Ja … Auf Wiederhören.«
Sie ließ den Hörer sinken und sah Bernard kalt an.
»Da hast du es«, zischte sie. »Da hast du es, du scheißliberaler Vater.«
»Wer war das, was ist denn los?«, fragte er nervös.
»Das war Frau Finkenthaler.«
»Ja und?«
»Deine Tochter macht Nägel mit Köpfen«, sagte sie ruhig.
»Kannst du jetzt endlich sagen, was los ist!«
Er sah aus, als wäre er kurz davor, auf sie loszugehen. Ich drückte mich ins weiße Leder.
Claire setzte ein falsches Lächeln auf. Es schnitt mir ins Herz.
»Sie sitzt mit den anderen Junkies auf der Kirchentreppe«, sagte sie langsam. »Wahrscheinlich dröhnt sie sich gerade so richtig zu.«
»Ich frage mich nur, wer hier eigentlich zynisch ist!«, schrie Bernard, schnappte sich im Rausgehen seinen Mantel und knallte die Tür hinter sich zu.
Der Motor des BMWs heulte auf. Dann
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