Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
ich sie einschätzte, würde sie sich eher die Zunge abbeißen, bevor sie irgendjemandem anvertrauen würde, dass sie verliebt war. Sie war wirklich ganz anders als Isabelle. Vor einer Weile hatte sie sogar ein Gedicht über Tom geschrieben. Sicher hundert Mal hatte sie es sich (und mir) laut vorgelesen, dann hatte sie es in ein Kuvert gesteckt und zur Post gebracht. Zunächst dachte ich, sie hätte es an Tom geschickt. Ich war beeindruckt von ihrem Mut. Zwei Monate später kam jedoch heraus, dass sie ihr Werk an eine Zeitschrift geschickt hatte, wo es tatsächlich abgedruckt worden war. Diese Neuigkeit konnte sie dann doch nicht für sich behalten. Sie rief Janine an.
»Ich bin im Musenalp-Express!«, rief sie. »Sie haben ein Gedicht von mir abgedruckt!«
Zehn Minuten später stand Janine im Zimmer. Mit Lesezeichen versehen, verwahrte Laura die Ausgabe der Zeitschrift wie einen Schatz unter ihrer Matratze. Janine las das Gedicht und sah Laura an.
»Ich hab’s gewusst«, sagte sie.
»Was?«
»Dass du in Tom verliebt bist.«
»Bin ich gar nicht.«
»Erzähl mir nichts. Du bist total verknallt. Warum heißt das Gedicht denn sonst ›Major Tom‹?«
Laura wurde rot. Es machte wirklich keinen Sinn, es abzustreiten.
»Für mich lebst du in einer anderen Galaxie. Auf einem fremden Stern. Ich erreiche dich nie und möchte es doch so gern. Zwischen uns liegt die Milchstraße wie eine Autobahn, und ich, ich kann kein Raumschiff fahren«, las Janine vor und hob den Blick. »Das ist klasse.«
Das fand ich auch. Wie Laura allerdings ausgerechnet auf so eine Weltraum-Idee kam, wusste ich nicht, denn wenn Star Trek im Fernsehen kam, schaltete sie immer um.
Nach außen hin behielt Laura ihre unnahbare Strategie bei und tat alles Mögliche, um ihre Eltern aufzuregen. Sie ging aus dem Haus, obwohl Claire es verbot. Sie ging in den verruchtesten Jugendklub, obwohl Bernard es verbot. Sie gab keine Antworten, wenn sie etwas gefragt wurde, und lehnte alles ab, was ihr angeboten wurde. Die Uhr, die in der Zeitbombe »Hüblistraße 8« tickte, musste bald abgelaufen sein. Lange konnte das nicht mehr gut gehen. So etwas spüre ich. Bärenintuition.
»Papa und ich gehen heute Abend aus«, sagte Claire eines Abends.
»Ach, tut ihr mal wieder so, als wärt ihr wohltätig?«
Claire holte tief Luft. Sie schluckte und fuhr fort:
»Nein. Wir müssen mal in Ruhe miteinander reden. Das ist hier ja leider nicht möglich.« Sie sah Laura scharf an.
Das war doch ein gutes Zeichen! Vielleicht würden sie endlich richtig miteinander reden, anstatt das Minenfeld immer weiter auszudehnen. Ich wünschte es mir so sehr. Nicht für mich, nein, ich spielte in dieser Familie nur die Rolle des Zuschauers. Nein, ich wünschte es mir für Laura. Ich wünschte ihr, dass sie wieder das Kind sein konnte, das sie eigentlich war, dass sie nicht mehr so unglaublich cool sein musste – wie sie es nannte – und nicht, um ihre Eltern zu schockieren, weiter Dinge tat, die sie selbst doch noch viel mehr schockierten.
»Schaffst du es, einmal kein Chaos zu veranstalten?«
Zur Antwort verdrehte Laura die Augen.
»Bitte.«
»Ja-ha.«
»Also, bis später.«
»Ciao.«
Claire sah richtig schön aus. Eigentlich bemerkte ich zum ersten Mal, seit ich sie kannte, wie hübsch sie war. Sie trug ein langes Kleid aus fließendem Stoff, hatte die Haare nicht so streng zusammengebunden wie sonst, und ihr Gesicht hatte fast etwas Weiches.
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Laura ließ sich aufs Sofa fallen, schwang die Füße auf den Tisch und starrte ins Leere. Nach einer Minute nahm sie die Füße wieder herunter.
»Jetzt heißt es Daumen drücken«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir, und zum ersten Mal seit langer Zeit schimmerte so etwas wie Sehnsucht durch ihre dunkle Fassade.
Es war spät, als Bernard und Claire heimkamen. Laura war längst ins Bett gegangen. Ich hockte auf dem Fernseher und hörte die bekannten Geräusche von Schlüsseln und Garderobenbügeln, dann die Kühlschranktür in der Küche, schließlich kamen sie ins Wohnzimmer. Sie machten kein Licht. Claire trat ans Fenster, in der Hand hielt sie ein Glas. Bernard stellte sich hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Du hast wundervoll ausgesehen heute Abend«, sagte er mit leiser Stimme in die Dunkelheit.
Sie schwieg und wandte langsam den Kopf. Das Licht aus dem Flur fiel auf ihr Gesicht und tauchte es in einen warmen Schimmer.
»Es war ein schöner Abend«,
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